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Vienna1Mit ihrer hier als österreichische Erstaufführung gezeigten Arbeit „Extra Life“ setzt die französisch-österreichische Künstlerin, Choreografin, Regisseurin und studierte Philosophin Gisèle Vienne ihre Auseinandersetzung mit traumatisierenden Erfahrungen fort. Wie kann man mit dem Erlebnis sexuellen Missbrauches weiterleben? Aus viel Text, Theater, Tanz, Lasershow und elektronischem Sound entsteht ein bedrückendes Abbild innerer Verwundungen.

Das Auto steht auf einem Schotter-Platz im Nirgendwo. Das Geschwisterpaar Felix (Theo Livesey) und Susan (Adèle Haenel) scherzt aufgedreht im dämmernden Morgen nach einer Party-Nacht. Belanglosigkeiten, aber auch über Pseudowissenschaft aus dem Autoradio. Polyphoner Sound. Und im Licht der Scheinwerfer taucht eine dritte Person, Klara (Katia Petrowick), auf. Die Puppe auf dem Rücksitz ist wie ihr inneres Kind, das immer bei ihnen ist. So das düstere Setup.Vienna2

Die Stimmung kippt. Er erzählt von seiner Vergewaltigung als Kind. Er konnte nicht schreien. Der Täter, sein Großvater, war für ihn ein Alien. Ihr war ähnliches passiert. Sie spalten von der realen eine Fantasie-Figur ab und deuten damit im Außen auf ihre eigene psychische Konstitution, die posttraumatische dissoziative Persönlichkeitsstörung. Endlich können sie darüber reden. Aber wie? Sie machen sich lustig über Opfer sexueller Gewalt, sie beschreibt eine äußere, also ihre innere tote Wüste. Sie lachen und weinen, streiten und umarmen sich. Das Auto ist ihr Raumschiff, ein sicherer Ort. Sie sackt verzweifelt zusammen. Das Zeitgefüge verzerrt sich. Sie verschränken Vergangenheit, Gegenwart und vorweggenommene Zukünfte. Sie tanzen in Slow Motion und frieren Bewegungen ein. Als wäre die Party irgendwie noch nicht zu Ende, aber anders.

Vienna3Das Laser-Licht (von Yves Godin in Zusammenarbeit mit Gisèle Vienne) in der nebligen Bühnen-Atmosphäre produziert faszinierende Bilder, deren Groß-Disco-Ästhetik in langen verspielten Show-Parts ausgelebt wird. Aber natürlich haben Licht und Sound (Synthesizer-Komposition von Caterina Barbieri, Sounddesign von Adrien Michel) metaphorische und gestalterische Kraft. Die Stimmungen schwanken wie die der Figuren zwischen heiterer Unbeschwertheit und durchlebtem, verdrängtem, emotional jedoch ständig gegenwärtigem Horror.

Der Sound spielt uns ihre inneren Stürme. Die grünen Laser-Flächen setzen horizontale und vertikale bewegliche Grenzen. Die Decke senkt sich bedrohlich herab auf die in dem Raum um diesen kämpfende Susan. Der blaue Laser schneidet den Boden, dass Rauch den Linien folgt, die das patriarchale Fundament der Gesellschaft in klar abgegrenzte Areale segmentieren. Vienna4

Sexueller Missbrauch interferiert mit allem in uns, mit dem Atmen, der Bewegung, der Wahrnehmung, dem Fühlen. So die Regisseurin im anschließenden Artist Talk. Auf die Bühne gestellt sehen wir dissoziierte Persönlichkeiten mit deren selbstzerstörerischem Verhalten, ihrer inneren Leere, Schuldgefühlen, einer lange währenden Unfähigkeit, darüber zu reden, mit emotionaler Orientierungslosigkeit, mit ihrer Flucht in virtuelle und Traum-Welten, mit Lustfeindlichkeit, problematischer Sexualität und gestörtem Verhältnis zum eigenen Körper, mit einer patriarchalen Sicht auf die weibliche Lust und einer selbstsabotierend konditionierten Selbstwahrnehmung.

Sie spielen mehrere Rollen. Felix zum Beispiel wird in einer Szene zu seinem eine kind-große Puppe herzenden Vater der diesem Kind bald brutal gebietet, zu schweigen. „Er hat uns zerstört.“ Und als er die Kinder zerstört hatte, durften sie ihren Lieblings-Kartoon schauen. Die Dritte auf der Bühne, Klara, flirtet mit dem Auto, dem maskulinen Fetisch, und kopuliert schließlich damit.

Vienna5Wie kann man trotzdem weiterleben als physisch, psychisch und sexuell vollständige Persönlichkeit? Das Stück erzählt von der Möglichkeit eines posttraumatischen Lebens, von dem Gefühl, am Leben zu sein und den mannigfaltigen Bewältigungs-Strategien. Am Ende keimt Hoffnung, wenn Felix und Klara nah beieinander hocken im sehr langsam verklingenden Sound und sich verdunkelnden Licht.

Die diese Arbeit durchziehende schonungslose Kritik an der männerdominierten Gesellschaft mit ihrer systemimmanenten patriarchalen Wahrnehmungsdoktrin hebt „Extra Life“ weit über die Untersuchung von individuellen Effekten sexueller Gewalt. Wie sie Familie und Gesellschaft bestimmt, wie sehr unser Blick trainiert ist, patriarchal zu sehen, wie eine solche Gesellschaft, deren Machtstrukturen als natürlich propagiert werden, eine Gewalt-Erfahrung durch Ignoranz erst zu einer traumatisierenden macht, all das formuliert eine dringende Notwendigkeit von fundamentalen Veränderungen. Damit das, was uns erzählt wird, endlich auch zu dem wird, was wir erleben.

Gisèle Vienne: „Extra Life“ am 01.03.2024 im Tanzquartier Wien.

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