Bert Gstettner macht den Donaukanal zur Bühne, begibt sich ins Labyrinth des Minotaurus, setzt sich, gleich zwei Mal, mit dem Schicksal des schwarzen „Parade-Migranten“ Angelo Soliman auseinander und tanzt traurig und wütend über „Splitter und Scherben“. Doch die Wut ist wieder verraucht, Gstettner, ist keiner, der im Selbstmitleid erstarrt. . Er gibt nicht auf, sucht neue Wege, findet neue Räume und verwirklicht neue Ideen. Mit dem Tanztheater „Herr*Jemineh hat Glück“ begeistert der erfolgreiche Tänzer und Choreograf neuerdings das ganz junge Publikum. Es wäre aber nicht Bert Gstettner, wenn es tatsächlich eine Altersbeschränkung gäbe. „Herr*Jemineh“ darf ohne Ausweis besucht werden, ein Tanzstück für die ganze Familie.
Der * im Titel des nach einem Kinderbuch von Heinz Janisch entstandenen gar köstlichen Tanztheaters ist ein Teil des Logos der von Gstettner vor 22 Jahren gegründeten Kunstvereins „Tanz*Hotel / Art*Act“. Der fünfzackige Stern des Tanz*Hotel, auch die jetzige Domaine in der Zirkusgasse weithin leuchtend schmückend, steht für die von Gstettner initiierten und choreographierten Projekte in Zusammenarbeit mit Tänzerinnen, Komponisten, Musikerinnen, bildenden und angewandten Künstlern. Auch „Herr Jemineh“ ist eine Produktion von Tanz*Hotel. Dieser Herr Jemineh, der es gar nicht mit der Tante Jolesch hält und sich keineswegs „vor allem, was noch ein Glück ist“ hütet, sondern sich darüber freut, steht nicht nur dem Choreografen Bert Gstettner nahe, sondern auch dem Menschen.
So erzählt er zwar mit ausladender Gestik und samtigen Augenaufschlag vom Desaster als dem Tanz*Hotel das weitläufige Domizil in der ehemaligen Hellerfabrik in Wien-Favoriten gekündigt wurde und gleichzeitig sämtliche Subventionen der sogenannten „Theaterreform“ zum Opfer fielen: „Und ich stand da mit einem Baby am Arm, in einer doppelten Schlinge gefangen. Mein Team, das ich jahrelang beschäftigt hatte, musste ich entlassen.“ Der Bub, den er unsichtbar zärtlich in den Armen wiegt, um den Absturz zu symbolisieren, ist inzwischen zehn Jahre alt und hat eine dreijährige Schwester. Manchmal trainiert auch sie schon mit der Kindergruppe, die Gstettner im neuen Tanz*Hotel mit allen Formen des körperlichen Ausdrucks bekannt macht. Zwar hat ihn der Einbruch einer bisher kontinuierlich verlaufenen Karriere als Tänzer, Choreograf, Lehrer und Netzwerker niedergedrückt, aber nicht gebrochen; später auch geschockt, doch nicht verbittert. Mit eisernen Stiefeln zerstampfte er auf der Bühne aufgeschichtetes Geschirr, ging mit bloßen Füßen über den Scherbenhaufen. Erschütternd für das Publikum, befreiend für ihn selbst. Und symptomatisch für den Tänzer / Choreografen, der zwar immer neue Ausdrucksmöglichkeiten und neue Räume sucht, aber dennoch dem expressiven Tanztheater verhaftet bleibt. Im Auf und Ab der bewegten Karriere stand ihm Eine zur Seite, beruflich wie privat: Devi Saha. Lebensgefährtin und als Bühnenbildnerin und Kostümkünstlerin auch treue Mitarbeiterin. Auch für die Kinder, die in „Herr *Jemineh“ mitspielen, hat sie die Kostüme entworfen.
Jeder von Gstettners Produktionen geht auch eine intensive Recherche voraus, mit seinem Team taucht er ganz ins ausgesuchte Thema ein. Dabei geht es Gstettner weniger um die Chronologie der Narration als um den Ausdruck der Gefühle und die Gestaltung von Atmosphäre und natürlich auch um den Tanz, seine Geschichte und seine Erneuerung. Für die 2008 gezeigte Soloperformance „Splitter*Scherben“ musste er keine aufwändige Recherche betreiben, sie kam aus seinem inneren Erleben und war dennoch auch allgemeine Aussage über den Zustand des Tanzes und Gespräch mit dem Publikum.
Die romantische Geschichte vom kleinen Bertl, der sich schon in den Windeln zur Musik wiegte, ist allerdings nicht zu erzählen. Von den Möglichkeiten, den Körper als Ausdrucks- und Kommunikationsmedium zu benutzen, Gefühle zu zeigen oder Geschichten zu erzählen, hatte der Bub keine Ahnung. Und auch nicht die oft zitierte Sehnsucht nach dem Drehen und Schweben, Wirbeln, Schreiten und Stampfen. Bis er sein Aha-Erlebnis hatte. Mit zehn oder zwölf. Ein durchreisendes Ehepaar, als Judokas unterwegs, absolvierte im Garten der Eltern in Purbach am Neusiedlersee das Morgentraining. Mit großen Auge beobachtete Bertl und war hingerissen. Von jenem Morgen an wusste er ganz genau, was er wollte: Seinen Körper einzusetzen, um sich mitzuteilen, mit der Welt zu kommunizieren.
„Das war so einmalig, wie diese zwei Menschen in unserem Garten auf dem Kopf standen und dann diese Kampfbewegungen machten. Ich war hingerissen. Und wollte das auch gleich machen.“ Der Weg über die asiatische Kampfkunst zum Tanz war lang und steinig, doch auch heute noch, vierzig Jahre danach, gehört für Gstettner die Kampfkunst zu seinem Trainingsprogramm. Bis auf die Philippinen ist er gereist, um bei einem Meiser zu studieren. „Tanz und Kampfkunst haben so viele Gemeinsamkeiten. Vor allem muss man sich in beiden Disziplinen mit dem Körper auseinandersetzen und ihn zu beherrschen lernen.“ Und Gstettner wollte lernen, trainierte in New York bei Erick Hawkins, Liebhaber und Ehemann der großen Martha Graham, studierte bei Liz King in Wien und setzte sich mit außereuropäischen Theaterformen auseinander. Seine Werkliste ist lang und eindrucksvoll, nicht nur den „Scherbentanz“ vergisst man nicht so schnell.
Was noch ein Glück war, damals als die Falle zuschnappte? Die Tatsache, dass im Haus seiner ehemaligen Wohnung (jetzt von der Mutter des Sohnes bewohnt) die Parterreräume frei wurden. Ade Loft in Favoriten, Grüß Gott neue Basisstation in der Zirkusgasse für Tanz*Hotel / Art*Act Kunstverein. Nicht nur Kinder trainieren hier, Gstettner bietet auch Erwachsenen Raum für Training, Proben und Workshops, hilft bei der Realisierung von Aufführungsprojekten und bietet jungen Künstlerinnen und Künstlern eine Heimat. „Artist at Resort“ nennt er das Residence- und Coaching Programm, bei dem er Tanzschaffende choreografisch begleitet. „15 Schlüssel habe ich vergeben, damit der Raum genützt wird.“
Begleiten, entwickeln, entdecken neben dem Choreografieren die Hauptanliegen von Bert Gstettner. So hat er auch den körperbehinderten Philosophen Michael Turinsky als Darsteller entdeckt. Inzwischen ist Turinsky mit eigenen Choreografien auch als Solist erfolgreich. „Ich bin ihm sehr dankbar“, sagt Gstettner, „mit ihm zu arbeiten, relativiert die eigene Situation, befreit von Selbstmitleid und hat mir klar gemacht, dass wir alle irgendwie behindert sind. Der Michael steht auch für mein Konzept des ,Hereinholens’, obwohl ich mich ja selber als vom System Ausgestoßener fühlte.“ Für den Tänzer / Choreografen ist „in diesem System zu wenig Bewegung. Der Kulturbetrieb ist festgefahren. Es wird viel geredet, aber nichts getan. Neben dem Tanzquartier gibt es keine Bühne, die permanent Tanz programmiert. Und auch dort gibt es maximal drei Auftritte für die paar Choreografen, die akzeptiert werden. Eine Bühne, die permanent bespielt werden kann, hat auch das Tanzquartier nicht.“
Gerne würde Gstettner die Freie Szene mit der etablierten vernetzen. Residenzen an großen Häusern anbieten, „damit man drei, vier Monate in Ruhe arbeiten kann und versichert ist. Es wird dauernd davon geredet, dass die Kulturlandschaft samt der misslungenen Theaterreform erstarrt ist, doch gleichzeitig wird keine Bewegung zugelassen.“ Bert Gstettner aber bleibt in Bewegung, lässt im Studio die an der Decke fixierte Stange herunter, klemmt sie in der richtigen Höhe fest, um eine Stunde Ballett zu trainieren. „Ohne Bewegung ist das Leben undenkbar“, zitiert Gstettner den Judo-Lehrer und Bewegungstherapeuten Moshe Feldenkrais während er seine Knie zum ersten Plié beugt. Im Tanz hat er sein seelische Gleichgewicht wieder hergestellt.
"Herr Jemineh" wurde im Jänner 2014 drei Mal vor ausverkauftem Saal im "Dschungel Wien" wieder aufgeführt.
Das Porträt ist in gekürzter Fassung im "Schaufenster" der Tageszeitung "Die Presse" vom 24.1. 2014 erschienen.