Theater muss berühren. Seit 2009 setzen sich die japanische Tanzdramaturgin Nanako Nakajima und der deutsche Regisseur Gerd Hartmann mit dem Choreographen Osamu Jareo im Rahmen des „Thikwa plus Junkan“ Projekts mit den „Limitationen“ des Körpers auseinander und erarbeiten mit Behinderten und nicht Behinderten Bühnenstücke, die in Japan und Deutschland nicht nur die Aufmerksamkeit von „integrativen Festivals“ oder „inklusiven Festivals“ erregen.
Der Begriff „limitierter Körper“ ist für Gerd Hartmann ein Terminus, den er im Rahmen seiner künstlerischen Arbeit ungern verwendet. Es spricht lieber von „perfekten“ und „unperfekten“ Körpern, denn auch alltägliche Körper unterscheiden sich grundlegend von durchtrainierten Körpern von Athleten oder professionellen Tänzern. Entscheidend ist, wie man mit den Grenzen des Körpers umgeht. Im Zentrum der Auseinandersetzung also steht die Frage, was ein Performer unter gewissen gegebenen Voraussetzungen mit seinem Körper ausdrücken kann. Hartmann geht es nicht darum zu zeigen, dass Menschen mit Handicap auch etwas können. Im Fokus steht vielmehr die Suche nach einem Ausdruck, der auf Grund der körperlichen (und auch geistigen) Besonderheiten behinderter Menschen so nur von ihnen geleistet werden kann – als eigenständiger und unverwechselbarer Beitrag in der künstlerischen Auseinandersetzung.
Kommunikation durch Körpersprache ist für Hartmann ein Schlüsselbegriff seiner Arbeit. Wenn zum Beispiel ein Performer sich bei der sprachliche Äußerungen semantisch unverständlich ausdrückt, sei es seine Aufgabe als Regisseur und die Aufgabe der Performer, diese Äußerungen in einen neuen Kontext zu stellen und dieser eigenen Sprache durch ihren Klang im Rahmen des körperlichen Ausdrucks eine neue ästhetische Dimension zu verleihen. Nichtverständlichkeit ist in einem solchen Zusammenhang kein Defizit, sondern eine Möglichkeit, andere Hör- und Sehperspektiven zu öffnen. Wichtig ist ihm dabei die Suche nach dem Eigenen des Performers, und darin liege der Reiz und die Reichhaltigkeit eines gemischten Ensembles.
Für den Regisseur, in dessen integrativem Ensemble seit Jahren eine Butoh-Tänzerin arbeitet, und der, wie der Choreograf Osamu Jareo den Körper als Ausgangspunkt der Kommunikation sieht, erwies sich die Zusammenarbeit mit einer „anderen“ Kultur als durchwegs barrierefrei. Auf Gastspielen und Arbeitskooperationen in Japan machte er die Erfahrung, dass gerade im Behindertenbereich gesellschaftliche Normen, die das japanische Alltagsleben durchgehend bestimmen, relativiert werden und somit die künstlerische Zusammenarbeit erleichtert wird.
Die japanische Tanzdramaturgin Nanako Nakajima steht daher dem Begriff „Integration“ kritisch gegenüber, der ja immer die Tendenz verfolgt, Unterschiede zu ignorieren und gesellschaftliche und künstlerische Erscheinungen zu monotonen Hauptströmungen zu vereinheitlichen. Dahinter stecke eine Assoziation mit der Gesundheit und auch ein Konnex mit der Immigrationspolitik im Zusammenhang mit ethnischen Fragen in Deutschland, findet Nakajima.
Als traditionelle Tänzerin hat sie zwanzig Jahre lang japanische Tanztechniken trainiert und danach als Tanzdramaturgin bei experimentellen Tanz- und Performance-Projekten in New York gearbeitet. Nach ihrem Umzug von New York nach Berlin wollte sie auch in Berlin ein neues alternatives Tanzprojekt realisieren, das sie mit ihren Forschungsinteressen verbinden konnte. Als Tanzwissenschaftlerin beschäftigt sie sich nun mit dem Thema Älterwerden im Tanz und hat am Zentrum für Bewegungsforschung mit der renommierten Tanzforscherin Gabriele Brandstetter das Symposion „Aging Body in Dance“ organisiert. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion über ästhetische Alternativen ein wichtiges Thema für sie.
Wichtige Vorbilder für ihre Arbeit sind Yvonne Rainer, Jérôme Bel und Raimund Hoghe, die mit alternativen tänzerischen Körpern arbeiten und Schönheitsnormen des Tanzes, die stark mit jungen, nicht behinderten, gesunden Tänzern verbunden sind, hinterfragen. Ihr Ziel als Tanzdramaturgin des Thikwa Projekts ist es, einen neuen Kontext aus interkultureller Perspektive vorzustellen.
Die Zusammenarbeit von Nakajima mit Gerd Hartmann und dem Theater Thikwa ist aus einem Studienaufenthalt des japanischen Choreographen Osamu Jareo hervorgegangen, der 2008 ein Jahr lang als Kulturstipendiat Japans in Berlin lebte. Vor seinem Berlinaufenthalt hatte er als so genannter Facilitator eines Community-Dance-Projekts, "Junkan Project", mit japanischen Behinderten gearbeitet.
In der ersten Entwicklungsphase des Projekts wurde mit Osamu Jareo lange versucht, in einem freien Raum ohne feste Choreographie für die Tänzer zu operieren, der es erlaubte, in einem gewissen Rahmen, einem vorgegebenem Motiv, die Ideen von behindert/nicht-behindert, japanisch/deutsch miteinander zu kommunizieren und in Verbindung zu bringen.
Gerd Hartmann, der bei der Arbeit mit den „Behinderten“ von Anfang an dabei war, freut sich nun über Einladungen seiner Produktionen bei Festivals, die nicht von vorherein als Behindertenfestivals deklariert werden – ein Trend, der in den letzten Jahren eine Veränderung zu erfahren scheint.„Wir wollen in ganz normalem Zusammenhang gezeigt werden“ resümiert der Regisseur. So erhalten die Performer die Anerkennung, die ihnen als Künstler zusteht, indem sie nicht als bemitleidenswerte Sozialfälle wahrgenommen werden, sondern als künstlerisch handelnde Subjekte, die einen relevanten und eigenständigen Beitrag zur kulturellen und gesellschaftlichen Debatte leisten können. Die Einladung, mit dem „Thikwa plus Juncan Projekt“ das international renommierte Performing Arts Festival Kyoto Experiment 2012 im September dieses Jahres zu eröffnen, ist ein bedeutender Meilenstein in diese Richtung.
Dass diese Realität Veränderungen im Publikums- und Kritikerverhalten sowie eine Neuorientierung in der Kunstförderungspolitik mit sich bringt, stehe außer Frage, meint Hartmann. Es geht auch darum, eine direkte Auseinandersetzung mit den künstlerischen Wertungen der Produktionen zuzulassen, auch negative,Tabubereiche zu betreten oder diese zu beseitigen. Hier befinden wir uns, so Hartmann, in den Anfängen einer Entwicklung, die es noch auszubauen gelte. Ansätze dazu konnte er bereits im Rahmen des Internationalen Theaterfestivals NO LIMITS in Berlin 2011 beobachten. Eine Blogplattform zum Festival bot jungen Kunstkritikern einen Raum, der es ihnen erlaubte, ihrer Kritikfähigkeit Ausdruck zu verleihen. Denn, „gut gemeint“ sei kein künstlerisches Kriterium, „Kunst muss bewegen, behindert oder nicht behindert.“ Wenn diese Voraussetzung erfüllt sei, sei auch der künstlerische Anspruch garantiert.