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Klagelieder9258 icon„Blühende Landschaften Wählen!“ - Dreißig Jahre nach dem Wahlversprechen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl bringt Mario Schröder mit „Lamento“ einen zweiteiligen Ballettabend auf die Bühne des Leipziger Opernhauses, der die Begriffe Freiheit und Unfreiheit, Ankommen und Abschied und die besonderen Rolle Leipzigs in der Friedlichen Revolution von 1989 aufgreift. Visulas und ein Interview mit dem Ballettchef anlässlich der Uraufführung der „Sinfonie der Klagelieder“.

„Blühende Landschaft“ - so lautet auch der Titel des ersten Stückes. Das damals gegebene Wahlversprechen wählte Mario Schröder als Titel und ironische Anspielung auf eben jene nach der Wende versprochene rosige Zukunft. Zu Udo Zimmermanns „Lieder von einer Insel“ und Werken Johann Sebastian Bachs stellte er vor sieben Jahren „Blühende Landschaft“ als Teil des Abends „Pax 2013“ der Choreografie „Pax Questuosa“ seines früh verstorbenen Vorgänger Uwe Scholz an die Seite.Klagelieder9221

Der zweite Teil des Abends ist Mario Schröders choreografischer Umsetzung von Henryk Góreckis „Sinfonie der Klagelieder“ gewidmet. In seiner melancholisch-getragenen 3. Sinfonie op. 36 verarbeitete der Komponist ein klösterliches Klagelied Marias aus dem 15. Jahrhundert, das Gebet einer achtzehnjährigen Widerstandskämpferin, welches man an der Wand einer Kellerzelle des Gestapo Gefängnisses Zakopane fand. Der langsamen und schwermütigen Musik Góreckis begegnet Mario Schröder zu Beginn mit einer dynamischen, temporeichen Choreografie, während ein fortwährender Ascheregen die Bühne allmählich bedeckt. Im zweiten Satz sind es massiv erscheinende Glaskuben, die sich auf die Tänzer herabsenken, und ihren Bewegungsspielraum auf ein Minimum beschränken. Das beklemmende Gefühl der Eingeschlossenheit löst sich im 3. Satz auf, in dem Mario Schröder der positiven Grundstimmung der Komposition folgt: die Melodie eines oberschlesischen Volksliedes, in dem eine Mutter um ihren Sohn klagt, der in den polnischen Aufständen zu Tode kam. Das Gewandhaus Orchester setzt Góreckis außergewöhnliche Komposition mit großem Feingefühl um und erschafft einen zutiefst emotionalen, transparenten Klangkosmos von meditativer Kraft aus dem der Sopran Lenka Pavlovičs sich strahlend erhebt und in ihn eintaucht. Nachdem der Vorhang sich gesenkt und Mario Schröder und das Gewandhausorchester unter der Leitung von Christoph Gedschold sich zu den Tänzern des Ensembles gesellt haben, erhebt sich das Leipziger Publikum von seinen Plätzen. Es feiert seinen Ballettdirektor, ein tänzerisch großartig agierendes achtunddreißigköpfige Ensemble und ein Orchester von Weltrang.

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Lou Thabart in "Sinfonie der Klagelieder"

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Ester Ferrini, Vincenzo Timpa in "Sinfonie der Klagelieder"

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Carl van Godtsenhoven, Urania Lobo Garcia, David Iglesias Gonzales, Diana Sandu in "Sinfonie der Klagelieder"

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Leipziger Ballett in "Sinfonie der Klagelieder"

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Lou Thabart, Urania Lobo Garcia in "Sinfonie der Klagelieder"

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Leipziger Ballett in "Sinfonie der Klagelieder"

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Vincenzo Timpa, Itziar Ducajú, Vivian Wang, Marcelo Ferreira in "Sinfonie der Klagelieder"

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Anna Jo, Marcos Vinicius Da Silva in "Sinfonie der Klagelieder"

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Madoka Ishikawa, Alessandro Repellini in "Sinfonie der Klagelieder"

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Madoka Ishikawa, Alessandro Repellini, Anna Jo, Marcos Vinicius Da Silva in "Sinfonie der Klagelieder"

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Laura Costa Chaud, Vivian Wang in "Sinfonie der Klagelieder"

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Leipziger Ballett in "Sinfonie der Klagelieder"

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Leipziger Ballett in "Sinfonie der Klagelieder"

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Marcos Vinicius Da Silva in "Blühende Landschaft"

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Leipziger Ballett in "Blühende Landschaft"

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Laura Costa Chaud in "Blühende Landschaft"

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Leipziger Ballett in "Blühende Landschaft"

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Das Interview

Was hat sie bewogen diese Komposition für ihr neues Stück zu verwenden?

SchroederDen Wunsch, diese Sinfonie zu verwenden, hatte ich schon seit vielen Jahren. Das war 1994 - da war ich sogar noch Tänzer hier in Leipzig - da habe ich das Werk das erste Mal gehört. Und ich dachte nur, was für eine wunderschöne Musik. Seitdem existiert dieser Wunsch. Vielleicht hat es auch mit den Umständen damals zu tun gehabt: die Friedliche Revolution beendet, Aufbruchstimmung.

Alle drei Sätze der Klagelieder sind langsam und ruhig. Wie sind sie bei der Erarbeitung der Choreografie vorgegangen?

Ich liebe es, wenn ich mit Musik umgehe, mich einerseits von diesem Klangkosmos umspielen aber auch mich fallen zu lassen in diesen Kosmos. Aber dann auch die Partitur dabei zu haben und zu schauen, wie sind denn eigentlich die Strukturen. Es ist wie in die Architektur eines Hauses hinein zu gehen und zu schauen, wo sind die Trägersäulen in einer Komposition, vielleicht sogar Neues darin zu entdecken. Ich lasse mich also nicht nur von meinem Gefühl und meinem seelischen Moment einnehmen, sondern schaue dann auch, wie ist der Komponist heran gegangen ist und was da für Elemente enthalten sind. Man würde verrückt werden - also ich persönlich zumindest - wenn ich nicht die Strukturen noch einmal über das Hören hinaus in der Partitur vor mir sehen würde, sozusagen wie eine Zeichnung oder ein Architekturplan. Insofern ist der Strukturplan für mich persönlich und auch für die Tänzer – gerade wenn es darum geht große Gruppenszenen zu erstellen und wir mit Cues arbeiten – sehr hilfreich um bestimmte Architekturen in der Choreografie herstellen zu können. Ich bin jemand, der sehr akribisch darauf achtet, dass zusammen geatmet wird, da jeder Tänzer die Bewegung anders fühlt und es ist eine Herausforderung dann alle gleich zu bekommen. Da helfen die Cues und die Struktur der Komposition.

Wie darf man sich den kreativen Prozess bei Mario Schröder vorstellen? Gehen sie bereits mit einem fertigen Konzept in die Proben oder ist es mehr ein Entwickeln und Experimentieren – ein kooperativer Prozess, in dem sie sich auch durch die Kreativität der Tänzer inspirieren lassen?

Wenn ich eine Choreografie am Schreibtisch entwickle und dabei die Musik höre, weiß ich bereits wer was tanzt. Ich würde nicht die gleichen Dinge entdecken in der Musik, wenn ich nicht den Tänzer dabei vor mir sehen würde. Insofern entstehen diese Schritte nur für diese TänzerInnen.
Wir sind immer das, was wir sind aus der Geschichte heraus und die Dinge, die um uns herum sind, beeinflussen uns und hinterlassen Spuren. Genauso ist es mit Begegnungen mit Menschen. All die Tänzer, die in den vergangenen Jahren hier in der Compagnie gewesen sind, die haben bei mir Spuren hinterlassen, die schwingen mit sozusagen, wenn die Begegnungen in der Arbeit intensiv waren. Die Intensität in der Begegnung mit Künstlern ist für mich eine sehr wesentliche. Das hat Einfluss auf meine Arbeit und darauf wie ich in das Studio gehe. Und ich lasse mich sehr gerne von den Tänzern überraschen.

Wie gestalten sie kreative Spielräume für ihre Tänzer, beispielsweise in der Szene, in der sie in Glaskästen eingeschlossen sind?

Ich gebe meinen Tänzern ein Instrumentarium und Strukturen mit und sie können mit diesen Strukturen frei umgehen. Wenn ich zehn Menschen auf engstem Raum habe und einer Extremsituation aussetze, dann will ich sie nicht damit allein lassen. Ich muss ihnen ein Instrumentarium an die Hand geben, mit dem sie umgehen können. Aus diesen Strukturen können sie ausbrechen, sie können im Grunde damit machen was sie wollen. Wenn ich einen Tänzer vorher überhaupt nicht mitnehme auf diese Reise und ich sage ihm, das ist ein Glaskubus, dann ist er ja nur ein Sklave. Ich möchte schon, dass die Tänzer verstehen, worum es geht, was es bedeutet. Nicht nur, was es mit ihnen persönlich macht, sondern auch was es mit uns, den Betrachtern, macht.

Wie politische kann bzw. sollte Tanz sein?

Ich glaube, dass gerade der Tanz extrem schnell reagiert und mit gesellschaftlichen Prozessen umgeht, ich glaube fast schneller als jede andere darstellende Kunstform. Das wunderbare an Körpersprache an sich ist doch, dass es eine Sprache ist mit der man sich nicht nur vermitteln kann, soll und darf, sondern in der man auch lesen kann. Dieser Kosmos Bewegungssprache ist natürlich immer gesellschaftlich und politisch angedockt, auch wenn es noch so abstrakt ist. Wir haben momentan eine Situation, die ist politisch sehr brisant. Natürlich werde ich Stellung dazu beziehen. Ich habe meinen Hintergrund und den bringe ich mit. Ich kann nicht den Mund halten, als Künstler schon gar nicht. Ich finde, es ist auch eine Verantwortung, die wir haben als Künstler Stellung zu beziehen.

Dreißig Jahre sind vergangen seit dem Mauerfall, was hat das mit Ihnen gemacht?

Es ist ein Prozess und ich glaube der hält auch noch an. Mit mir hat es sehr viel gemacht. Ich gehöre allerdings eine Generation an, die davon profitiert hat. Für mich war der Moment der Veränderung sehr stark getragen von Hoffnung und auch Glücksmomenten. Man war wie ein Schwamm und wir haben alles aufgenommen was von außerhalb kam. Aber nicht weil wir ausgetrocknet waren, es ging um Identitätssuche in dieser Zeit. Ich persönlich bin dankbar, dass ich diese zwei Gesellschaftssysteme und politischen Systeme erlebt habe, weil das sehr starken Einfluss auf meine Situation als Künstler hat. Vor einer Verhaftung zu stehen und dann fünf Minuten später einen Durchlauf zu machen mit „Dornröschen“, das löst etwas aus. Da stelle ich mir als Künstler persönlich die Frage, was mache ich hier? Unten bei der Demonstration werden Menschen ins Gefängnis gebracht und ich soll hier Dornröschen tanzen. Da stelle ich mir ganz klar die Fragen, was ist Tanz, was ist Ballett, wo sind wir, was machen wir und wo gehen wir hin?
Ich hatte Reiseverbot, ich war erster Solist hier in Leipzig, ich bin ausgewechselt worden bei Tourneen, weil ich nicht mitreisen durfte. Das war aber weniger schlimm für mich, weil ich dachte, die werden schon ihre Gründe haben. Es hat aber zum Gegenteil geführt, dass ich noch neugieriger wurde. Ich habe angefangen mehr und mehr Fragen zu stellen. Es war alles immer eine Identitätssuche und die hat nicht aufgehört. Ich bin sicher, dass all diese Erlebnisse in der DDR sehr wichtig waren für das Hier und Jetzt. Zu sehen, zu reagieren und dabei meine eigenen Prozesse weiterzutreiben. Meine Wurzeln waren in der damaligen DDR, das hat mich einerseits geprägt, es hat mir aber auch das Know How gegeben neu durchzustarten. Diese Hoffnung und diese Glücksmomente die halten immer noch an. Ich sehe das nicht alles negativ. Und wenn Herr Kohl von „blühenden Landschaften“ gesprochen hat – egal wie er das gemeint hat – dann hat er den Menschen vielleicht einen Glücksmoment gegeben. Natürlich kann man stark hinterfragen, was aus diesen blühenden Landschaften geworden ist. Aber ich bin sehr glücklich, dass die friedliche Revolution stattgefunden hat, weil ich es liebe mit Menschen zusammen zu kommen, das wurde mir dadurch gegeben. Ich darf reisen, ich darf lesen, was ich möchte und ich darf die Menschen treffen, die ich treffen möchte. Und es prägte meine Auffassung, dass wir als Künstler eine Verantwortung haben reflektieren zu müssen, was gerade passiert.

Wie sieht es mit künstlerischen Freiräumen an einem staatlich subventionierten städtischen Theater aus und inwiefern orientieren sie sich an Erwartungen des Publikums?

Es reicht nicht aus, nur schön zu sein. Mir geht es in erster Linie darum, eine Tiefe zu erzeugen. Es ist eine Chance, dass Leute zuhören können, hier an dem Ort, an dem wir uns versammeln. Diese Verantwortung habe ich und wenn ich eine dringende Frage habe und ich will diese Frage stellen, dann mache ich das, egal wie das ästhetisch aussieht oder ich welche Richtung es geht. Je nachdem wie intensiv die Frage formuliert werden soll, dementsprechend werde ich die Bilder dazu finden. Aber sie müssen immer mit mir zu tun haben. Ich würde nie etwas machen, wo ich nicht darin auftauche. Diese Suche nach Authentizität ist immer da, sonst könnte ich gar nicht arbeiten. Und ich lasse mir auch nicht sagen von anderen Menschen, was ich zu tun habe in meiner Kunst und welches Stück ich am Besten machen soll, damit Publikum reingeht. Natürlich hat man Kämpfe, es wäre ja schlimm, wenn wir keine Kämpfe hätten in der Kunst. Wir müssen uns klar sein, Ballett ist immer noch eine der darstellenden Kunstformen an den Theatern die sehr unterschätzt wird – nicht nur in ihrer Wirkung sondern auch in ihrer Arbeitsweise – und dafür werde ich immer kämpfen.
Wenn Menschen in einer Aufführung weinen, dann ist es das tiefste Moment was man bekommen kann und dann weiß ich, ich bin auf dem richtigen Weg. Dann weiß ich auch ich werde immer versuchen authentisch zu bleiben. Ich stelle die Dinge ja nicht in Zweifel als solches, ich stelle mich selbst in Zweifel, das hat etwas mit der Identitätssuche zu tun.

Leipziger Ballett: „Lamento“ 2-teiliger Ballettabend von Mario Schröder. „Blühende Landschaft“ und Uraufführung „Sinfonie der Klagelieder“ an der Oper Leipzig. Premiere: 08. Februar 2020. Weitere Aufführungen: 22. März, 03., 12., 18. und 26. April 2020.

Alle Fotos von Ingo Schäfer

 

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