Hauptkategorie: Fotoreportagen

01BryanAriasISK0421Zwei internationale Choreografen setzt das Staatstheater Darmstadt auf Strawinskys ebenso wegweisendes wie skandalträchtiges Werk „Le sacre du printemps“ an, der am 29.Februar 2020 zur Premiere kam. Im ersten Teil des Abends setzte sich Bryan Arias mit der Uraufführung des Werkes in Paris und den tumultartigen Szenen, die sich unter den Zuschauern am Abend des 29. Mai 1913 ereigneten, auseinander. Im zweiten Teil des Abends, ist Edward Clugs 2012 in Maribor uraufgeführte und gefeierte Interpretation des „Sacre“ zu sehen.

Das Konzept des Abends geht auf. Zur Musik eines erstklassig aufgelegten Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung des Generalmusikdirektors Daniel Cohen überzeugt das Hessische Staatsballett mit eindrucksvollen tänzerischen Leistungen.

Anlässlich der Uraufführung traf Autor und Fotograf Ingo Schäfer die Choreografen zu einem Gespräch. Den Beginn macht Bryan Arias, das Interview mit Edward Clug über seine Interpretation des „Sacre“ und seine Zusammenarbeit mit dem Hessischen Staatsballett wird im zweiten Teil dieser Reportage auf tanz.at erscheinen.

„29 May 1913"

Es ist der Abend des 29. Mai 1913 in Paris. Premiere im Théâtre des Champs-Élysées für Le Sacre du Printemps. Nach den erfolgreichen Produktionen „L’Oiseau de feu“ und „Petruschka“ ist es die dritte Ballettmusik für großes Orchester, die Igor Strawinsky für Sergei Djagilevs Ballets Russes komponierte. Die Premiere, bei der die Musik aufgrund der turbulenten Bedingungen kaum zu hören war, wurde zum größten Skandal der Musikgeschichte. Am Ende der Veranstaltung waren 27 Personen unter den Zuschauern verletzt. Bis heute wird darüber diskutiert, ob es der außergewöhnliche Rhythmus, die Dissonanz und Polytonalität in Strawinskys Komposition oder Vaslav Nijinskys Choreografie, die auf archaischen Ritualen beruhte und mit allen Konventionen des klassischen Balletts brach, war, die die scheinbar unverhältnismäßige Aggressivität des Publikums auslösten, selbst nach den damaligen Maßstäben.

Herr Arias, in Ihrer neuen Choreographie setzen Sie sich mit den Ereignissen am Abend des 29. Mai 1913 auseinander. Was ist in dieser Nacht in Paris passiert?

Es war der Beginn von etwas Neuem, eine Choreografie die archaische Rituale auf die Theaterbühne brachte und mit althergebrachten, überkommenen Konventionen brach. Ich wurde in gewisser Weise in die extremen Reaktion des damaligen Pariser Publikums hineingezogen, da meine Arbeit viel mit der menschlichen Verfassung zu tun hat. Ich habe im Zusammenhang mit dem „Sacre“ viel über Rituale nachgedacht, auch über ganz alltägliche Rituale. Unsere Gewohnheiten zum Beispiel, wie wir morgens aufwachen, wie wir ins Bett gehen, wie wir unser Leben leben. Rituale, die wir geschaffen haben, um das Leben effizienter, einfacher und bequemer zu gestalten.
Ich glaube, an diesem Abend erwartete das Publikum etwas zu sehen, das so wie immer sein würde. Ein ganz normaler Abend im Theater - ein Ritual. Aber es ereignete sich etwas, was das Publikum nicht erwartet hatte, etwas das in ihren Augen nicht normal war. Was sie sahen erzeugte zuerst Unbehagen und artete schließlich in Verärgerung und offenen Protest aus. Die Reaktionen waren intensiv und größtenteils sehr emotional.
Es gibt auch heute noch Situationen die zu vergleichbarer Verärgerung und Aufregung unter den Menschen sorgen. Zum Beispiel, wenn Sie den Status Quo in Frage stellen. Wir sind mit so vielen Dingen konfrontiert, dem globalen Klimawandel, der Verschmutzung der Weltmeere, #me too, Frauen- und LGBTQ-Rechte. Wir werden uns allmählich bewusster darüber, wie wir heute leben und wie wir leben wollen. Viele Rituale, an die wir uns mit der Zeit gewöhnt haben, stellen wir heute in Frage. Ich habe viel darüber nachgedacht, was an jenem Abend in Paris passiert ist, und ich glaube, dass etwas Vergleichbares gerade wieder passiert.

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Hessisches Staatsballett "20 May 1913". v.l.n.r.: Masayoshi Katori, Gaetano Vestris Terrana, Rita Winder, Tatsuki Takori, Isidora Markovic, Aurélie Patriarca, Kristin Bjerkestrand, Ramon John

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Hessisches Staatsballett "29 May 1913". Isidora Markovic, Ramon John

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Hessisches Staatsballett "29 May 1913" v.l.n.r Kristin Bjerkestrand, Masayoshi Katori, Tatsuki Takada, Rita Winder, Gaetano Vestris Terrana, Vanessa Shield, Aurélie Patriarca, Isidora Markovic, Ramon John

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Hessisches Staatsballett "20 May 1913". Masayoshi Katori, Aurélie Patriarca

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Hessisches Staatsballett "20 May 1913". Kristin Bjerkestrand, Aurélie Patriarca, Masayoshi Katori, Rita Winder, Gaetano Vestris Terrana

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Hessisches Staatsballett "29 May1913"

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Hessisches Staatsballett "29 May1913". v.l.n.r. Tatsuki Takada, Kristin Bjerkestran, Ramon John, Masayoshi Katori

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Sind Sie bereits mit einem fertigen Konzept für die Choreografie nach Darmstadt gekommen?

Ich bin mit einigen konkreten Themen und Ideen nach Darmstadt gekommen. Generell erstelle ich die Choreografie immer vor Ort mit den Tänzern. Ich gebe ihnen große Freiheiten und wir machen viele Improvisationsübungen. Gemeinsam mit meinem Komponisten hatte ich einige musikalische Skizzen erarbeitet, die wir dann in den Übungen verwendeten. Die Improvisationen mit dem Ensemble helfen mir sehr, da ich auf diese Weise die Tänzer viel schneller kennenlerne. Ich sehe, was ihre Vorstellungen von Freiheit sind, was ihre Bewegungen bestimmt, ob sie eher ein passiver oder ein dominierender Tänzertyp sind und ob es eine Chemie zwischen zwei oder drei Tänzern gibt. Mit diesen Informationen fällt es mir leichter, mir ein bestimmtes Duett, Trio oder ein Solo vorzustellen.

Was können Sie über Ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten Dmitri Savchenko-Belski erzählen?

Dmitri komponiert Musik und Soundtrack für Film- und Musikprojekte in Los Angeles. Er hatte bisher noch nie Musik für das Theater komponiert. Ich fühle mich sehr zu Ambient- und minimalistischer Musik hingezogen und daher mag ich auch seinen musikalischen Stil und seinen besonderen Sound. Dmitri und ich hörten uns gemeinsam Strawinskys Originalpartitur an und verwendeten Samples daraus, um damit zu arbeiten. Wir haben Strawinskys Sacre als Inspiration und als Möglichkeit benutzt, unsere eigenen musikalischen Ideen zu verwirklichen. Ich mag den Raum den seine Musik eröffnet, einen Raum den ich für Bewegung und Tanz nutzen kann.08BryanAriasISK0994

Was ist die Inspirationsquelle für Ihre Choreografien?

Meine Inspiration und Fantasie habe ich vor allem von meiner Mutter. Sie wuchs in Armut als jüngstes von sieben Kindern in El Salvador auf und verließ ihre Heimat, ganz auf sich allein gestellt, mit 16 Jahren und emigrierte in die USA. Sie verwirklichte ihren Traum von einem besseren Leben. Meinen Bruder und mich zog sie allein auf und arbeitete dafür, ohne eine Ausbildung zu haben, in Nickel- und Cent-Jobs. Ich wusste damals nicht, wie schwer es für sie war. Von meiner Mutter habe ich die Fähigkeit zur Beobachtung und die Aufmerksamkeit für Andere. Die Art wie ich meine Geschichten erzähle, alle diese Elemente aus meinem Leben, das hat sehr viel mit meiner Mutter zu tun.
Außerdem wurde ich in Puerto Rico geboren. Wir lieben es dort zu tanzen, es gibt überall viel Gesellschaftstanz. Ich bin in Salsa-Gruppen aufgewachsen, habe in kleinen Ensembles getanzt und bin zu Salsa-Kongressen gereist wo wir uns mit anderen Compagnien gemessen haben. Als ich dann nach New York City zog, wuchs ich in Spanish Harlem auf. Damals war das noch ein gefährlicher Ort, aber es gab eine Hip-Hop-Gruppe, angeführt von einem Community-Aktivisten der sich um die Jugendlichen im Viertel kümmerte. Dort lernte ich Hip Hop und Breakdance von bekannten Breakdance Gruppen wie den New York City Breakers und Full Circle. In jeder Choreographie denke ich darüber nach, wie viel Hip Hop und Salsa ich in meine eigene Arbeit stecken kann.

Im Hinblick auf Ihre Wurzeln im Salsa und Break Dance, was können Sie über Ihre Arbeit mit dem Darmstädter Ballettensemble erzählen?

09BryanAriasISK1430Es wäre schwierig, wenn ich gleich am ersten Tag zur Probe käme und Hip-Hop-Musik auflegen würde. Aber so fange ich nicht an. Mein erster Tag ist eine Einführung, ein Gespräch, ganz einfache Dinge wie „Sag mir deinen Namen. Woher kommst du?“ Und dann Improvisation, leichte Aufgaben wie Gehen und Stillstehen. Danach geht es weiter mit Ausdruck, emotionalen und ausdrucksstarken Gesten. Dann, zwei Wochen später, lege ich Hip-Hop-Musik auf und sage ihnen: „Lasst es uns versuchen.“ Es ist wichtig, dass die Tänzer mir vertrauen und das sie wissen, dass es Raum zum Scheitern gibt. Scheitern ist in Ordnung. Es hat viel damit zu tun, wie man etwas Neues anbietet und wie man seine Ideen den Tänzern vermitteln kann.

Wann haben Sie sich entschieden, nur mehr als Choreograf zu arbeiten?

Das war zu der Zeit, als ich in Holland mit dem Nederlands Dans Theatre tanzte. Solange ich das Gefühl hatte, als Tänzer etwas zu sagen zu haben und eine Verbindung zum Publikum herzustellen, war ich erfüllt. Aber ich erreichte den Punkt, an dem ich mich nicht mehr so fühlte. Ich war 24 Jahre alt und wollte etwas Neues beginnen. Den Mut dazu, diesen Schritt zu tun, hatte ich vor allem wegen meiner Familie und meiner Mutter, obwohl ich nicht wusste, was passieren würde, wenn ich zu tanzen aufhöre. Doch seither habe ich ein sehr erfülltes Leben.

Was sind Ihrer Meinung nach die Schlüsselqualifikationen um als Choreograf erfolgreich zu sein?

Ich denke, Selbstbewusstsein und Demut sind zwei wichtige Voraussetzungen. Ein Choreograf braucht die Gabe der Demut um zu wissen, dass es nicht um ihn allein geht. Das Theater, das Ballett funktioniert als Ganzes, weil es eine kollektive Energie gibt, die es am Laufen hält. Wenn Sie egozentrisch sind, verpassen Sie so viele Dinge die wichtig sind. Es gibt kein Zentrum, alles ist immer Ursache und Wirkung. Mir persönlich ist sehr wichtig was ich tue und wie ich es tue und wie es die Menschen um mich herum beeinflusst.
Und dann gibt es noch so etwas wie einen sechsten Sinn, den man mit der Zeit entwickelt. Im Gegensatz zum logischen Denken weiß das Unterbewusstsein, der menschliche Instinkt, manchmal besser, was richtig ist und was zu tun ist.

Hessische Staatsballett: Le sacre du printemps - Uraufführung „29 May 1913“ von Bryan Arias und „Le sacre du printemps“ von Edward Clug am Staatstheater Darmstadt. Premiere am 29.Februar 2020. Weitere Aufführungen sind aufgrund der aktuellen Covid19-Situation bis auf Weiteres ausgesetzt.

 PortraitBryanAriasBryan Arias

Bryan Arias wurde in Ponce, Puerto Rico, geboren und zog mit seiner Familie im Alter von neun Jahren nach New York City. Er erhielt seine formelle Tanzausbildung an der dortigen La Guardia High School for the Performing Arts. Nach einer Zusammenarbeit mit dem Complexions Contemporary Ballet führten ihn Engagements ans Nederlands Dance Theater und nach Vancouver, Kanada zu Kidd Pivot. Er tanzte u.a. in Choreografien von Jirí Kylián, Ohad Naharin und Crystal Pite.
2013 gründete er seine eigene Kompanie ARIAS Company, deren künstlerischer Leiter er seitdem ist.
Seit 2015 entstehen eigene Choreografien, u.a. für The Scottish Ballet, Hubbard Street 2 in Chicago, Nederlands Dance Theater, Paul Taylor Company, Gibney Company, Charlotte Ballet und das Ballett des Theaters Basel.
Bryan Arias erhielt mehrfach Auszeichnungen, u.a. den 1. Preis bei der Sixth Copenhagen International Choreography Competition für seine Choreografie „Without Notice”. Er gewann den Princess Grace Choreography Fellowship Award 2017 und wurde zuletzt mit dem Jacob’s Pillow Fellowship Award 2019 ausgezeichnet.