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brut katemcintosh„Ganz Ohr“ nennt die Performerin und Choreografin Kate McIntosh ihr im Vorjahr kreiertes Stück, in dem sie sich zuerst als forschende Sozilogin und später als eifrige Sound-Reporterin darstellt. Mit Charme und Konsequenz motiviert sie ihr Publikum und lässt es eifrig mitarbeiten. Die Neuseeländerin lebt in Brüssel und zeigt lebhaftes Interesse für die Naturwissenschaften und deren Methoden des Experimentierens.

Zuerst ein Geständnis: Interaktive Stücke sind mir zuwider. Ich bin Publikum, ich will konsumieren, schauen, genießen, einen Freiraum für eigene Gedanken haben, aber vor allem physisch passiv sein und mir von den PerformerInnen, TänzerIn oder DarstellerInnen nichts vorschreiben lassen. Diese arbeiten, ich langweile mich nicht. Das ist der Deal.

Kate McIntosh tanzt nicht, singt nicht, macht auch sonst wenig Spompanadeln, doch sie begeistert mit Bühnenpräsenz und trockenem Humor und kann mit Ernsthaftigkeit und Selbstironie ihr Publikum anderthalb Stunden lang zu fesseln. Zu Beginn sitzt sie an einem kleinen Tisch, beobachtet die hereinströmende Menge, kritzelt mit Bleistift auf Zettel, wartet geduldig, bis es wirklich still ist und stellt die erste Frage. Eine Forscherin benutzt das Auditorium, fragt, Peinliches und Alltägliches, notiert die Anzahl derer die sich melden, fragt immer weiter. Habe ich schon mal gelogen? Lieben Sie den Regen? Wer kann pfeifen? Wer ist eine Pünktlichkeitsfanatikerin? Bitte melden! Und schaut euch um, wer die anderen sind. Wer hat diese Woche allein gegessen und wer hat schon Geister gesehen? Zu welcher Gruppe gehöre ich? Zu welcher will ich gehören?  McIntosh gelingt Überraschendes: Sie teilt die Gruppe und fügt sie zugleich enger zusammen.

Als Dirigentin macht sie die Methode nicht nur sichtbar sondern auch hörbar. Wir sind das Orchester und zugleich ganz Ohr. Hände klatschen, Finger schnippen, Füße stampfen, Schenkelklopfen  – der Geräuschkanon klingt perfekt. Später werden neue Lärmquellen erschlossen, Murmeln zerschießen Keramikhäferl, Sessel, die an Seilen hängen, knirschen über dem Boden, und werden in die Höhe gezogen. Die einen zertrümmern, die anderen ziehen an der Strippe. Oder werden wir gezogen, von der Performerin, die laut Programmheft ein gesteigertes Interesse an „Konstruktion und Zerstörung“ hat? Materie wird zerstört, aber die Gemeinschaft wird konstruiert.

Im nachtblauen Cutaway erscheint die Reporterin samt Riesenmikrophon und nimmt die Stille auf, das Schwitzen, das Denken und Träumen. Eine letzte Frage im Dunkeln gestellt. „Wer glaubt in fünf, zehn, zwanzig, dreißig … Jahren noch zu leben?“ Immer mehr setzen sich nieder. Am Ende steht nur noch eine blonde junge Frau. Etwas erstaunt blickt sie um sich, in 150 Jahren, wird sie allein sein, die Einzige aus dieser Runde, die noch da sein wird. Das warme Gelächter umfängt sie als tröstliche Hülle. So übel ist es doch nicht, wenn die vierte Wand fällt, die Rampe sinkt und wir alle im selben Boot schaukeln. Der Deal war diesmal ein anderer und beide Seien haben gewonnen.

Kate McIntosh, „All Ears“, 14. Oktober 2014, brut