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kettly noel1„Je ne suis plus une femme noire / ich bin keine Schwarze mehr“ nennt Kettly Noël, geboren in Haiti, in Mali zuhause, ihr neues Tanzstück, dessen Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen stattgefunden hat. Mit Noël agiert der bildende Künstler Joël Andrianomearisoa aus Madagaskar auf der Bühne des Plastikersaales im Künstlerhaus. Material für das Stück ist ihre eigene Biografie, die Biografie einer schwarzen Frau.

Ein dürres Geäst, mehr ein Gestrüpp, hat die Tänzerin als Versatzstück und Dekoration ausgewählt. Darin kann man sich nicht verstecken aber sehr wohl verirren. Regungslos steht die schwarze Gestalt im Dunkel, dahinter ein Mann im strahlend weißen Hemd. Allmählich tritt die Gestalt, schwarz gekleidet mit einem großartigen Kopfschmuck aus bunten Blüten, ins Licht. Wie ein Schutzengel geht ihr „Komplize“ (Noël) hinter her, kommt dicht an sie heran, bis er sie an der Hand nehmen kann und vorsichtig über das weiß ausgelegte Bühnengeviert führt. Ganz nah kommt die Tänzerin den ersten der im Viereck aufgestellten Reihen, blickt den Zuschauerinnen fest in die Augen, intensiv, traurig, vielleicht auch zornig. Doch dann erhellt ein warmes, leicht amüsiertes Lächeln ihr Gesicht.

Kalt/warm und wieder kalt. In so ein Wechselbad der Gefühle lockt Kettly Noël ihr Publikum immer wieder. Ich pendle zwischen Genuss und Schrecken, Mitgefühl und Staunen, zwischen Verzagtheit und Vergnügen, Romantik und Entsetzen.
Der Engel im Hemd entpuppt sich bald als Teufel, ist Folterknecht und Polizist und perfider Schmeichler, wenn er Schmachtfetzen aus den 1940 Jahren singt oder singen lässt. Vom Partygirl und einem gebrochenen Herzen und von der perfiden Liebe der Entschwundenen. Kurze Erholungspausen in der getanzten Erzählung von Unterdrückung und Grausamkeit, Flucht und Folter. Die Musik (Hugo Maillet) spielt gekonnt mit, klingt wie Donnergrollen und Sturmesrauschen, klimpert, knattert, kracht und pfeift. Weckt Angst und Beklemmung. kettly noel2

Virtuos bewegt sich Noël durch ein Leben, ihr Leben, das nur wenige angenehme Momente kennt. Hilflosigkeit und Wut lässt sie den Kopf gegen die Wand schlagen, mit dem Körper auf den Boden klatschen, sich durch das Gestrüpp kämpfen und auch die Rolle als Mondäne in roten High Heels probieren. Doch da schnürt ihr bereits eine Leine den Hals ein, da erscheint der Engel (ein Denkfehler meinerseits!) als Folterknecht und fesselt sie, sodass sie weder Beine noch Arme bewegen kann. Genug!

Genug! Die Fesseln werden abgeworfen, das Beil blitzt auf, immer wieder, hackt nur in den Boden. Der verkleidete Teufel bleibt am Leben. Licht aus. Das irre Lachen könnte auch lautes Weinen sein.
Großartig, beeindruckend, doch weil die Erzählung so traurig ist, kann nicht von Vergnügen gesprochen werden.

kettlynoel donko sekoKettly Noël choreografiert seit 20 Jahre eigene Stücke und wurde dafür mit vielen Preisen ausgezeichnet. In Mali, das nach Stationen in Paris und Benin seit 1999 zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden ist, etablierte sie ein Festival, eine Kompanie, eine Produktionsfirma und einen Ausbildungsort für zeitgenössischen Tanz. Das Tanzzentrum Donko Seko steht in Malis Hauptstadt, Bamako.

Kettly Noël / Joël Andrianomearisoa: „Je ne suis plus une femme noire / Ich bin keine Schwarze mehr“, Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen am 5. Juni 2015, Künstlerhaus.
Weitere Vorstellungen: 6., 7., 8. Juni 2015.