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04 skewDie Wiedersehensfreude war unüberseh- und hörbar. Zwar war der übliche Jubelchor aus den locker besetzten Zuschauerrängen der Volksoper weniger lautstark als zu normalen Zeiten. Dafür fühlte sich der Applaus umso warmherziger an. Dazu trug freilich auch ein stimmig zusammengestelltes Programm aus dem Repertoire des Wiener Staatsballetts bei, mit dem der neue Ballettdirektor bei seinem Einstand ein glückliches Händchen bewies.

Jiri Kylián und Hans van Manen – ihre Namen stehen für die europäische Ballett-Zeitgeschichte. Die Ikonen des Nederlands Dans Theatre, deren Stile völlig unterschiedlich sind, beeinflussen bis heute die Nachfolgegenerationen. Dieses künstlerische Erbe bringen Paul Lightfoot und Sol León, von denen das erste Stück des Abends stammte, als ehemalige Tänzer und Leiter des NDT ganz unmittelbar mit. Vor diesem Hintergrund ist der Auftakt, den Martin Schläpfer für Wien gewählt hat, auch als seine eigene choreografische Visitenkarte zu verstehen, mit der er auf die Einflüsse seiner eigenen kreativen Entwicklung verweist.

Ein Start mit Humor01 skew

Endlich wird es wieder gespielt: Paul Lightfoots und Sol Leóns erquicklich skurriles Ballett „Skew-Whiff“ auf den Spuren nach allzu tierisch Menschlichem. 2011 kam es ins Repertoire des Wiener Staatsballetts, war nun aber schon einige Jahre nicht mehr am Spielplan. In seinem Sketch zu Rossinis Gassenhauer-Ouvertüre zu „Die diebische Elster“ verschiebt das Choreografenduo die klassische Linie, biegt sie, verschwurbelt sie und verbindet sie dabei mit virtuosen Sprüngen und Drehungen. Das Resultat sind Szenen, in denen sich balzender Machismo aufschaukelt und an femininer Power reibt  – und die dabei so leicht, so humorvoll und so liebenswert ver-rückt bleiben, dass das Publikum schlicht mitgerissen wird. Die Hälfte der Besetzung tanzte bereits bei der Wiener Premiere im Jahr 2011: Denys Cherevychko und Masayu Kimoto haben die Körperhaltung bereits im Blut, Davide Dato war in einer neuen Rolle zu erleben (und fast noch eine Spur zu schön darin). Ein souveränes Debut gab Fiona McGee als begehrtes und begehrendes weibliches Gegenstück.

15 AdagioDie choreografischen, neoklassischen Bewegungsarchitekturen von Hans van Manen in „Adagio Hammerklavier“ sind immer wieder eine Herausforderung, für die TänzerInnen ebenso wie für das Publikum. Olga Esina und Robert Gabdullin, Ketevan Papava und Roman Lazik, Liudmila Konovalova und Andrey Teterin tanzen mit exakter Ernsthaftigkeit zum Adagio aus Beethovens "Große Sonate für Hammerklavier". 10 Adagio

Diesmal, und erstmalig in der Geschichte der Wiener Aufführungstradition von 1977, wird der beinahe in die Unendlichkeit gedehnte langsame Satz, live gespielt: Shino Takizawa gelingt dieses Kunststück in Anlehnung an die Interpretation von Christoph Eschenbach, deren Einspielung bisher das Ballett begleitete, wunderbar. Doch die schwebende Leichtigkeit, die dieses Werk ausstrahlen kann und soll, stellte sich an diesem Abend nicht ein. Das mag auch daran liegen, dass die Konzentration der ZuseherInnen in der Pause nach dem elfminütigen Einstieg von „Skew-Whiff“ erschlafft ist. (Diese Unterbrechung ist auch vor dem Hintergrund der Corona-Maßnahmen schwer nachzuvollziehen. Sollte das Publikum nicht dazu angehalten werden, auf den Plätzen zu bleiben?)

21 PsalmsNach einer weiteren Pause bildete „Symphonie of Psalms“ den Abschluss. Jiri Kyliáns Choreografie zum gleichnamigen Werk von Igor Strawinsky integriert konfessionsübergreifende Spiritualität inmitten von religiösen Symbolen wie Betstühlen und Gebetsteppichen (siehe auch tanz.at zur Premiere 2019). Die acht Paare sind ständig in Bewegung. Lediglich wenn sich der Vorhang hebt und die TänzerInnen im tiefen Plié mit dem Rücken zum Publikum stehen oder wenn ein Tänzer nach dem anderen auf den Boden fällt, und sie dann in sauberen Linien angeordnet für einen Moment liegen bleiben, weicht der Fluss einem kurzen Moment der Pose. Doch in den Pas de deux und Gruppensequenzen entfaltet sich Kyliáns schier unerschöpflicher Bewegungsreichtum. Wenn alle 16 TänzerInnen in Aktion sind, scheint seine überbordende Dynamik mit den Bühnenmaßen der Volksoper kaum ihr Auskommen zu finden.19 Psalms

Martin Schläpfer ist mit dieser ersten Premiere ein sehr guter Anfang gelungen. Nicht zuletzt, weil das Ensemble auch nach der langen Corona-bedingten Pause in Topform ist und nach dem Direktionswechsel keinerlei Verunsicherung zu spüren ist. Das Team ist gut gestartet und machte mit diesem Abend Lust auf die weitere Ballettsaison!

PS: Schade nur, dass man im Abendprogramm die Tanzschöpfer wieder nach den Namen der Komponisten in die zweite Reihe verwiesen hat. Das könnte auch dahingehend interpretiert werden, dass die Musik wichtiger sei als die Choreografie, aber diese Message kann doch beim Staatsballett unmöglich beabsichtigt sein. Oder? Das Ballett der Wiener Staatsoper hat bereits vor vielen Jahren die traditionelle Reihung zugunsten des Tanzes durchgesetzt, denn der "Ballettkomponist" ist eben der Choreograf / die Choreografin. Man sollte die Umkehrung also durchaus noch einmal überdenken.

Wiener Staatsballett: „Hollands Meister“ am 20. September 2020 in der Volksoper Wien. Weitere Vorstellungen am 20., 27. September; 1., 8., 15. Oktober.