Hauptkategorie: Kritiken

AkramKhan5Die Erzählungen über das Findelkind Mowgli, das im Tierreich des Dschungels zu einem verantwortungsbewussten Jugendlichen reift, sind, seitdem sie von Rudyard Kipling Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, immer wieder Stoff für Film- und Theaterproduktionen. Wenn Akram Khan sich damit beschäftigt, wird daraus ein Meisterwerk des 21. Jahrhunderts. Nicht nur Mowglis Welt gerät hier aus den Fugen. Mit überwältigender visueller und tänzerischer Kraft setzt der britische Choreograf ein Statement über die Zerstörung unseres Lebensraumes, das unter die Haut geht.

Akram Khan hat szenisch und inhaltlich den für unsere Zeit wohl gültigsten Zugang gefunden. Er verbindet die Bühne mit einem Animationsfilm und die Coming-of-Age Geschichte mit den Auswirkungen der Klimakrise. Mowgli ist nun ein Mädchen, das sich à la Greta Thunberg gegen die menschliche Aggression gegenüber der Umwelt stellt. AkramKhan4

Der große Regen kommt als Sintflut und überschwemmt das Land. Im Hochwasser rutscht Mowgli vom Floß und wird von ihrer Mutter getrennt. Die Tiere des Dschungels bevölkern mittlerweile die Städte, haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen, in der ein Rat demokratisch Entscheidungen für das Überleben trifft. In einem dieser von Menschen verlassenen Gebäude wird Mowgli von Wölfen gefunden. Der Tierrat entscheidet, dass sie leben soll, auch gegen jene Stimmen, die sie, den Menschen lieber tot sehen würden. Der Panther Bagheera und der Bär Baloo sollen sie behüten. Zusammen mit der Phyton Kaa werden sie Mowgli aus den Fängen der gesetzlosen Affenbande und dessen Anführer Bandar-log befreien, werden sie davon abhalten, den Tieren das Feuer zu bringen, das diese nie kontrollieren könnten. Sie alle sind keine wilden Tiere, sondern vom Menschen ausgebeutete Individuen: der Panther war in einen Palast entführt worden, Baloo wurde als Tanzbär missbraucht, der Affe war für Experimente im Labor vorgesehen und Kaa kämpft mit dem Trauma hinter einer Glaswand gefangen gewesen zu sein.

AkramKhan8Ihnen nähert sich das Kind mit neugieriger und empathischer Zuneigung und wird schließlich auch von allen Tieren akzeptiert, denn sie kann ihnen bei der Futterbeschaffung und gegen den Jäger helfen. Dieser ist ein Amokläufer, der um sich schießt und ein Tier nach dem anderen niederknallt. Mowgli wird ihn stoppen, indem sie seine Munition vernichtet. Er wird in den Fluten den Tod finden. Am Ende wird sich das Mädchen auf den Weg machen, um auch den anderen Menschen klarzumachen, wie sie sich gegen die Erde und andere Lebewesen versündigen, und damit nicht nur ihre eigene, sondern ihrer aller Existenz gefährden. Während die Tiere des Dschungels sich in höhere Gegenden aufmachen, um der Flut zu entkommen, kehrt Mowgli, wild entschlossen und entgegen dem Drängen ihrer Freunde bei ihnen zu bleiben, auf einem Floß wieder dorthin zurück. Wird sie ihre Mission erfüllen können? Die Antwort darauf bleibt Akram Khan zwangsläufig schuldig.AkramKhan28

Die großartige Inszenierung dieser Geschichte wird von einem kongenialen Team umgesetzt. Jocely Pook hat die Originalmusik komponiert, die ein breites Gefühlsspektrum anspricht. Gareth Fry hat das Sounddesign kreiert, bei dem menschliche Stimmen lautmalerisch in Tiersprachen übergehen. Da zischt es, flüstert, poltert und winselt es, und trotz dieser Effekte bleibt der Text von Tariq Jordan durchgehend deutlich verständlich (teilweise mit Unterstützung von deutschen Untertiteln, die auf der Projektionsfläche erscheinen). Adam Smith und Nick Hillel von YeastCulture haben ein Team von Animationskünstlern geleitet, die die Tierwelt lebendig machen. Weiße Linien werden zu Elefanten, Mäusen, Vögeln oder Giraffen gestaltet, die sich, auf die Bühne projiziert, perfekt ins Geschehen einfügen. In der Interaktion verschwimmen die Grenzen zwischen Analogem und Virtuellem. 

AkramKhan27Massenhaft Kartons auf der Bühne erfüllen immer wieder andere Funktionen, werden umgeschichet, verschoben, sind Schlangengesicht, werden zur Mauer oder formen ein grandioses Tor. Miriam Buether hat das Bühnenbild entworfen, das unter dem Lichtdesign von Michael Hull mitunter epische Dimensionen annimmt. 

Diese klug inszenierte Geschichte (Dramaturgische Beratung: Sharon Clark) oszilliert zwischen Dystopie, melancholischer Traurigkeit und überwältigender Poesie. Etwa wenn der Vogel Chil, der Mowgli von Beginn an auf ihren Abenteuern im Dschungel begleitet abgeschossen wird, und danach von einer Vogelschar in den Himmel gehoben wird. Der tolpatschige Baloo verströmt sanften, liebenswerten Humor, und es macht Spaß zuzusehen und zu hören, wenn die Tiere angriffslustig miteinander streiten.AkramKhan9

Die einprägsamen Szenen saugen die Zuseherin in das Geschehen, von dem alle Sinne angesprochen werden. Vor allem durch die Tänzer*innen, die mit Geschmeidigkeit und hoher Geschwindigkeit Tiere einmal realistisch, dann wieder abstrakter verkörpern. Hier sieht man wieder, wie der Choreograf sich seit seinen Anfängen entwickelt hat, ohne seine Wurzeln aufgegeben zu haben. Ja, der Kathak ist noch immer da, in den tiefen Pliés, den abgewinkelten Beinen mit den einwärts gedrehten Füßen. Gleichzeitig ist eine Geschmeidigkeit in die atemberaubende Dynamik gekommen, wenn die Tänzer*innen die Distanz vom aufrechten Gang in bodennahes Gleiten behände mit unglaublicher Leichtigkeit und Schnelligkeit überwinden. Man wird nicht müde ihnen dabei zuzusehen, wenn sie in der Gruppe Khans wundersame Tänze in den Raum setzen. 

AkramKhan22Zwei Stunden sind wie im Flug vergangen. Verzaubert verlässt man das Theater, auch wenn sich eine romantische Hoffnung auf ein Happy End nicht einstellt. Doch Akram Khan hat in dieser Version vom „Dschungelbuch“ seine ganz persönliche Message vermittelt, die sich seit seiner Kindheit, als er selbst als Mowgli auf der Bühne stand, zu diesem epochalen Gesamtkunstwerk ausformuliert hat. AkramKhan25

Auch diesmal eröffnet dieser Ausnahme-Choreograf neue Perspektiven auf unsere Welt. Eine weitere Facette dieses Blickwechsels kann man auch in der nächsten Saison im Festspielhaus erleben, wenn Akram Khan einen weiteren Klassiker, diesmal aus der Ballettliteratur bearbeitet: Das English National Ballet wird mit seiner Version der „Giselle“ im Februar 2023 im Festspielhaus St. Pölten zu Gast sein.

Akram Khan Company: “Jungle Book reimagined” am 7. Mai 2022 im Festspielhaus St. Pölten