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Elio3Im Jahr der 35-Jährigen, Wim Vandekeybus feiert eben diesen Geburtstag seiner Kompanie „Ultima Vez“ bei ImPulsTanz, blickt auch Elio Gervasi, italienisch-österreichisches Tanz-Urgestein, auf 35 Jahre „Tanz Company Gervasi“ zurück. In einem kleinen großen Solo. Und die ivorisch-französische Choreografin Nadia Beugré stellt fünf Männer auf die Bühne und lässt sie ihre Identität hinterfragen.

„Elio Solo“

Viele sind gekommen. Viele der TänzerInnen, die in den letzten Jahrzehnten Mitglieder der Tanzcompany Gervasi waren, wollten ihren Choreografen, Mentor und Lehrer tanzen sehen. Im zweiten Solo seiner Karriere, hier uraufgeführt, blickte der seit gut eine halben Jahrhundert in Wien lebende gebürtige Italiener Elio Gervasi zurück in die Zukunft seines choreografischen Schaffens. Der Schalk blitzt aus seinen Bewegungen, der Zweifel aus seinem Blick. 

Vor 35 Jahren gründete er seine eigene „Tanz Company Gervasi“, mit der er seither 80 Produktionen weit über die Grenzen Österreichs hinaus präsentierte. Seine Arbeitsweise, die nach intensivem Diskurs eine (partielle) choreografische Partizipation der TänzerInnen kennzeichnet, führte und führt zu Stücken, die die Persönlichkeiten der Performenden herausfordern, ausprägen und auf der Bühne erkennbar werden lassen. Die nach ihrer Gervasi-Zeit in die Tanzwelt Ausschwärmenden, vom Rohling (Gervasis untrüglicher Blick durchdringt die noch verhüllenden Oberflächen junger TänzerInnen und erkennt ihr Potential) zu teils funkelnden, jedenfalls vielflächigen Tanz-Diamanten veredelt, bereichern (nicht nur) die österreichische Szene des zeitgenössischen Tanzes.Elio2

Die Requisiten auf der Bühne scheinen zusammenhanglos herbeigewürfelt. Ein Bäumchen rechts, eine matt spiegelnde Wand ganz hinten, links daneben eine weiße, schräg gestellte Leinwand, die einen Backstage-Bereich von der anfangs noch leeren Bühne trennt und als Projektionsfläche für die in kontrastmaximiertem Schwarz-Weiß gezeigten Proben-Mitschnitte einiger seiner Kreationen dient (Video: Alberto Franceschini). Was die Objekte (viele grüne Plastik-Kästen, ein roter Stuhl, dem seine beiden Vorderbeine fehlen, eine lange Schalmei, eine Holz- und eine Gewindestange mit vielen Scheiben drauf, viele warme bunte Jacken und schließlich ein paar Bleche, müden Spiegeln gleich) bindet, ist ihre gemeinsame Herkunft aus dem Gesamtwerk Gervasis. 

Die große Geste liegt ihm fern. In Fragmenten zitiert er sein Bewegungsmaterial, prüft die Bewegung seiner Finger wie die seiner ausgebreiteten Arme auf ihren Gehalt. Selbstironische Distanz korrespondiert mit der Suche nach Ausdruck und Wahrheit. Der Sound (Komposition und Livemusik: Alessandro Vicard) erzählt mit vielfach gelayerten akustischen Häppchen von Erinnerungen und innerem Reichtum, aber auch von Wirrnis und Irrtum. Präzis getimt, exakt und doch nonchalant getanzt, balanciert Gervasi in diesem gemeinsam mit Karl Baratta erarbeiteten Stück zwischen Rück- und Ausblick. Die Spiegel hinten und auf dem Boden sind ihm regelmäßig konsultierte Partner. 

Elio1Die zarte Poesie und unaufdringliche Selbstverständlichkeit wird von ungeheurer, mehrdimensionaler Fragilität begleitet. Wütend schüttelt er einen Spiegel, als wollte dieser kein Bild zurückwerfen. Keines, das eine Antwort wäre auf die Fragen, die den Künstler bedrängen. Die nach dem Was, das zweifelt an dem in die Welt Entlassenen und zweifelt bei dem Blick voraus. Die nach dem Wie des Ausdrucks seiner inneren Begehren. Und auf die fundamentalste aller Fragen: Die nach dem Sinn.

Was bleibt, wenn Elio Gervasi, eingehüllt in viele Jacken wie in wärmende und einengende Erinnerungen, nach vielen gelaufenen Runden um sein zu einem hohen Turm auf Rollen aufgebautes Oeuvre (Man kann es in diese Ecke schieben oder dort einreihen.), die matten Spiegel oben auf, was bleibt von meinem Werk, was bleibt noch zu tun? Und was bleibt von mir?

Das lange schmale Blech, das er zum Ende hin am Bühnenrand, ganz vorn vors Publikum platziert, fordernd aufgestellt wie eine Projektionsfläche für uns, die gegenüber Sitzenden, und wie ein Spiegel, in dem sich selbst zu schauen Gervasi immer wieder Möglichkeiten schafft, wird auch zur Mauer zwischen Bühne und Tribüne, zwischen Künstler und Publikum, zwischen Kunst und Welt. Was bleibt, ist die Einsamkeit eines Künstlers als Essenz dieses berührenden Solos.

„L'Homme rare“

Laute Reggae-Musik zwingt das Tanzbein zum Wippen. Alles ist hell, die Bühne menschenleer. Erst nach Minuten schälen sich hinten aus dem Publikum fünf Männer. Die drei Afrikaner „typisch“ farbenfroh gekleidet, Von den zwei Weißen trägt einer einen Schottenrock, der Andere einen prall gefüllten BH unterm Hemd. Sie nehmen Zuschauer mit auf die Bühne und tanzen ausgelassen gemeinsam. Ansteckende Lebensfreude. Alle feiern ihr Wohlbefinden in und mit sich.Beugre2

Trügerisch jedoch ist dieses Bild. Nach und nach entkleiden sie sich. Die Eingeladenen ziehen sich zurück auf ihre Plätze. Lasziver Tanz an der Säule, afrikanische Volkstänze kurz mal angedeutet. „Boom Fire!“ schreit einer der Schwarzen wütend, immer wieder, sammelt nebenher die Kleidung ein und türmt sie direkt vor der Tribüne auf. Kulturell Zu- und Eingeschriebenes als konzentrierter Unrat direkt vor uns aufgehäuft.

Beugre3Nackt und mit ausgebreiteten Armen kann sich einer nur kurz im Lichte seiner Selbst sonnen. Sich seiner Kleider, sich also der sozialen und territorialen Zwänge und Prägungen zu entledigen, gibt nur ein flüchtiges Gefühl der Befreiung. Wir sehen sie immer nur von hinten, wenn sie ihre Körper klatschend prüfen, allein und gegenseitig. Die Mitte, das Gesäß, spielt eine Hauptrolle. Bodybuilder, Gay, die nackten Körper werden zu Aus-Druck. Jetzt, nach den äußeren, wendet Beugré sich den inneren Konditionierungen zu, die sich ins Physische drücken. Einer der fünf, Lucas Nicot, singt life. Links am Looper, den er kräftig bemüht, französisch, ein Lied von Serge Gainsbourg. Auch „Ich habe es nicht vergessen.“ Weil es im Unbewussten lauert. Die anderen vier schreiten wie die vier kleinen Schwäne eng nebeneinander. Die Hände auf den Pobacken des Nachbarn. 

Dann die vielen weißen Tücher (sie drücken ihre Köpfe verstört in den Haufen), die sie auslegen zu einem bühnengroßen Schachbrett, auf dem sie stehen, aufbereitet wie Bauernopfer, Figuren in einem viel größeren Spiel, das nicht sie spielen. Mit Zitaten aus vielen Kulturkreisen dieser Welt (Turbane auf den Köpfen oder diese arabisch verhüllt) und den Hautfarben der Tänzer, von ganz schwarz bis ganz weiß reicht das Spektrum, gibt Nadia Beugrédem Thema seine globale, universelle Dimension.

Sie verhüllen sich mit den Tüchern. Verschieden viel. Uniform, neutralisiert erhält ihre Nacktheit eine zweite Haut. Wie eine Metapher für die strukturell immer und überall gleiche Gesamtheit der identitätsprägenden Aspekte und der Einflussfaktoren, die sie letztlich in uns installieren. Gewalt, Schuld, Trauer, Melancholie, Ohnmacht und Trotz sind einige der angesprochenen emotionalen Kategorien. Als sie einem Weißen alle Tücher überwerfen, machen sie diesen zur Projektionsfläche für ihre Wut und zum Sündenbock für ihre Qualen.Beugre1

Zum Ende hin, die roten High Heels wurden auch kein Schuh für sicheren Stand, bindet sie sich einer auf den Kopf und vor das Geschlecht, setzt sich den riesigen Ballen aus weißen Tüchern auf den Kopf und dreht sich im roten Spot langsam um seine eigene Achse, immer um sich selbst. Die Last ist schwer, die wir tragen unser Leben lang mit uns herum, und sie wiegt im Kopf. 

Nadia Beugré selbst führt mit ihrem Erscheinen am Ende jede Wahrnehmung, die da glauben lässt, es ginge ihr hier nur um die eine, die männliche Hälfte der Welt und die Hinterfragung von deren geschlechtstypischen Identitätsmustern, ad absurdum. Nackt wie ihre Kollegen unten steigt sie gebeugt von der Tribüne hinab, stellt sich auf das weiße Tuch, klatscht auf ihren Körper und spielt auf der Mundharmonika ein traurig zweitöniges Liedchen ...

Jede einzelne Geste, jede Bewegung und jedes Bild in diesem Stück sind metaphorisch aufgeladen. Nadia Beugré erzeugt in dieser gut einstündigen, hier als Österreichische Erstaufführung präsentierten Arbeit eine Dichte, die denjenigen, die sich von den schönen Körpern nicht blenden lassen, den Atem stocken lässt. Die Komplexität ihres Sujets und dessen hochkonzentrierte dramaturgische und choreografische Umsetzung, brillant getanzt, performt und gesungen und in düstere Licht-Stimmungen gehüllt, sind einzigartig. Verantwortung zu übernehmen für sich selbst, ganz und gar, ist die zentrale Botschaft dieser Arbeit. Und Identitätslosigkeit ein hehres Ziel.

Elio Gervasi: „Elio Solo“ am 26. Juli 2022 im Schauspielhaus, LIBR'ARTS / Nadia Beugré: „L'Homme rare“ am 27. Juli 2022 im Odeon. Im Rahmen von ImPulsTanz.