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cn22 nikola milatovicWas dieser neue Zirkus, der Cirque Nouveau, eigentlich ist, wie dieser sein kann und in welcher Bandbreite er sich als solcher definiert, war heuer in Graz bereits zum 15.Male anhand herausragender Produktionen zu erfahren; die folgenden zwei von den drei der diesjährigen Darbietungen zeigen es wiederum beispielhaft und überzeugend. 

Gaia Gaudi

Gardi Hutter, die Grande Dame der neuen Clown-Welt dieses Zirkus-Formats, stand nicht zum ersten Mal vor dem steirischen und sie entsprechend stürmisch begrüßenden Publikum. Aber sie tat es erstmals nicht allein, sondern mit zwei ihrer Kinder und der Schwiegertochter. Aus dieser Konstellation entwickeln die Künstlerinnen nicht gerade eine Familienaufstellung, aber doch eine mehr oder weniger deutliche, tiefgründig wie (selbst)ironisch und humorvoll gestaltete Auseinandersetzung mit Themen, die sich zwischen Generationen entwickeln. Mehr noch: Gardi Hutter und ihre kongenialen Familienmitglieder erzählen in szenischen kurzen und längeren Sequenzen vom ewigen Kommen und Gehen, vom Nach-, Neben- Mit- und Gegeneinander, vom ewigen Alltagskampf, vom Lernen und notwendigen Loslassen. 3338 nikola milatovic

Zwar liegt sie, die Urmutter, alias „Mama“ bereits zu Beginn ihrer ‚Entwicklungs-Geschichte‘, in der unter dem Titel „Gaia Gaudi“ geblättert wird, wohlarrangiert im Sarg, aber selbstverständlich wird ihr dort langweilig. Und vor allem will sie weiterhin mitten im Geschehen sein respektive zumindest innerhalb ihrer Familie den Ton angeben: Aber dies ist kaum besser als es immer schon war: Kochlöffelschwingend bereitet sie ein Mahl, aber wenn sie zum Essen ruft, kommt keine, keiner. Umso aufnahmebereiter nimmt dann die Beleidigte zerknirschte Entschuldigungen und Huldigungen als ‚Königin‘ entgegen. Weitverbreitete Alltagssituationen und -Muster dieser Art werden in sprechenden Bildern weitgehend ohne Worte auf die Bühne gezeichnet: in ihrem drastischen Humor umso aussagekräftiger. 

3194 nikola milatovicDie immer wieder und immer markanter auftauchenden Totenvögel (in beeindruckenden Kostümen von den Protagonisten dargestellt) lassen mit ihrem gleichermaßen faszinierenden wie bedrohlichen Flügelschlag freilich nicht die Vergänglichkeit alles Seins vergessen – auch wenn Mama sie noch so sehr zu ignorieren versucht, sich noch so zur Wehr setzt. Bis die Boten des Jenseits die Unermüdliche, Szene für Szene enger umkreisend, auf das Unvermeidliche vorbereiten, sie bereit machen zum Annehmen und damit zum tatsächlichen Abtreten. Dieser mit feinen darstellerischen Mitteln bewusst gemachte trotzig-humorvolle, gleichermaßen fröhliche wie resignierende und schließlich akzeptierende Werdegang lässt den Zuschauer mitgehen: fast ein bisschen mit-zittrig manchmal auch, aber – Dank Gardi Hutters Kunst – mit einem Lächeln auf den Lippen und letztlich entspannt.

Out of Chaos4496 Gravity

Die in Australien beheimatete Gruppe Gravity & Other Myths zeigten die Graz-Premiere von „Out of Chaos“ und damit die weltweit ungefähr 70. Vorstellung dieser Produktion. So wie ihr akrobatisches Agieren physikalischen Grundgesetzen zu trotzen scheint, wirken ihre Freude, ihr Spaß und ihr Humor während ihres gesamten, gut einstündigen Tuns auf der Bühne federleicht. Ihre Kunst der Kommunikation ist eine nahezu diametrale zu Hutters außergewöhnlichen Fähigkeiten mimisch-gestischer Ausdruckskraft und ist, ohne tatsächlich vergleichbar zu sein, von ebensolch mitreißender, verzaubernder Kraft; eine, die wie nur wenige andere Könner dieses Genres, den Atem stocken lassen. Ob ihrer kaum fassbaren körperlich-technischen Fähigkeiten und jene ihrer sprudelnden Fantasie im Bereich der Präsentation ihrer Meisterschaft der Bewegung und Balance, der Kraft und Koordination. 

5013 gravityDas, was ihre Kunst unter anderem seit ihrem allerersten Auftritt in Graz im Rahmen dieses Festivals kennzeichnet, ist die Ferne zu jeglicher glatter Ästhetik. Gerade in dieser Produktion, der eine nahezu choreografische Inszenierung zugrunde liegt, ist es der harmonische, tänzerische Fluss des Geschehens, der in seiner selbstverständlichen Natürlichkeit dramaturgisch das facettenreiche Geschehen trägt. Mit klug eingesetzter Technik, insbesondere der des Lichtdesigns, aber bar jedes pompösen Glitters oder jeglicher Starallüren behafteten Auftretens stehen da ihr Bestes gebende Menschen auf der Bühne; also Künstler, die in all ihrer Perfektion auch einmal im Klitzekleinen herzerwärmend unperfekt sein dürfen, ihre Anstrengung, ein kurzes Zögern, die Notwendigkeit einer Entspannungspause (‚selbstverständlich‘ ohne Unterbrechung eines gesamtheitlichen Bewegungsflusses) zeigen.

Das, was erstmals in dieser Produktion leitthemaartig die Darbietung durchzieh, ist eine sehr eigenständige Art von Crossover: So entwickelt sich die Begrüßungs- und Vorstellungsszene der 9 Künstlerinnen zu einem (fast) unverständlichen Sprech-Chor. Oder: Das Hervorbringen eines Tones ohne Zwischenatmung wird in Konkurrenz gesetzt zum Durchhaltevermögen im einarmigen Handstand. Oder: Während eine Akrobatin sich auf die Spitze eines dreifachen Menschenturms emporarbeitet, ist sie nicht nur Dauerrednerin, sondern beantwortet auch Publikumsfragen. Getoppt vielleicht noch durch die geigenspielende, auf Tischen bewegte und auf dem Menschenturm musizierende Akrobatin. 5086 Gravity

4779 GRavityDas, was die Künstlerinnen mit Metallreifen in der Gruppe, zu zweit und einzeln an geradezu Poetischem vorzuführen haben, zählt zu einem weiteren Höhepunkt. Zu einem; also: man kann all dies kaum beschreiben – man muss sie erleben. 

Gardi Hutter & Co: „Gaia Gaudi“; 29.12.2022, Gravity & Other Myths: „Out of Chaos“; 3.1.2023 im Orpheum Graz im Rahmen des Festivals Cirque Noël