Lachambre5Auf die Suche nach Authentizität und spiritueller Wahrheit im Kunstschaffen begeben sich der Choreograf und Tänzer Benoît Lachambre und der ebenfalls aus Montreal stammende Bild- und Klangkünstler Félix-Antoine Morin in ihrer hier uraufgeführten Performance „Carthartic Quest“. Synthesizer und menschliche Stimme treffen im Museums- und Installations-Ambiente zusammen. Was entsteht, polarisiert.

In den angrenzenden Räumlichkeiten ist die Installation „Asemic Sound Mappings“ von Félix-Antoine Morin zu sehen, in der er in grafischen Partituren Grundstrukturen seines kompositorischen Repertoires abstrahiert. Eine weiße Linie schlängelt sich über alle Wände der Ausstellung und kriecht schließlich auch in den Raum der Performance, wo sie sich am Boden windet und verdichtet. Eine der ausgestellten schwarzen, mit parallelen Verläufen weißer Striche und Punkte bedruckten Bahnen wellt sich auch auf dem vom Publikum umsessenen Bühnenboden. Lachambre4

Heilpflanzen-Zeremonien und Katholizismus waren wichtige Inspirationsquellen für Benoît Lachambre. „Er lädt zu tiefgreifenden Reisen ein, die unsere Vorstellung von Wirklichkeit erweitern.“ So ist im Programmheft zu lesen. Das ist ein hoher Anspruch. Und lässt gespannt sein, auf das, was da kommt.

Lachambre hockt neben einem Stuhl. Er jault, jammert, greint, heult, schreit, geht in die Kopfstimme, grunzt tief, lamentiert und klagt mit nonverbalen Lauten, eine einzige Wehklage scheint er zu sein, beschwört wie in einem schamanischen Ritual (irgendwie so auch sein Outfit, mit freiem Oberkörper und einigen, aus dicken braunen Objekten gefertigten Ketten um den Hals), weint laut, bellt die Anklage, beinahe singt er auch zum Schluss. Er ist fokussiert, ganz versunken in seine Performance. Sehr authentisch strahlt er in den Raum.

Der begleitende elektronische Sound von Félix-Antoine Morin, erzeugt auf einem „Organismic Synthesizer“, hämmert, pulsiert, kreischt, quietscht, brummt, kracht, pfeift, faucht, zischt, alles in dissonanten, ständig variierenden Mixturen, Tonhöhen und Metriken. Nichts ist stabil, allem widerfährt immerwährende Veränderung, alles unterliegt gegenseitiger Beeinflussung. Alles moduliert alles. Plötzlich entstehende, scheinbar unvorhersehbare Resonanzen erzeugen unerwartete Frequenzen. Es fährt einem in Mark und Bein!

Lachambre2Die physische Performance beschränkt sich auf Hocken und Knien auf dem Boden oder einem Stuhl, kurz steht Lachambre auch einmal auf, steht mit gebeugten Knien und schrägem Oberkörper. Dann geht’s wieder auf den Boden. Körperlich und akustisch, rein physikalisch betrachtet, passiert also nicht viel. Oder doch? Die Klänge von Sound und Stimme brechen sich an den sehr hohen Wänden und der Decke des Museums-Raumes, füllen diesen aus. Die elektronischen Klänge sind mehrfach überlagerte, sich gegenseitig modulierende und miteinander und mit der Architektur resonierende und interferierende Töne. Wenn Lachambre mit seiner Stimme noch dazustößt, wird die Meta-Ebene hör- und fühlbar.

So wie absolut alles im Universum ist auch Klang Schwingung. Auch wir. Auch wir resonieren und interferieren. Aber: Was resoniert mit was, wie und warum? Was passiert in und mit uns, den Zuschauenden und vor allem Zuhörenden? Am Ende hat etwa ein Drittel der BesucherInnen den Raum verlassen. Sie haben von der Stimmakrobatik und den Sound-Spielereien, vom scheinbar experimentellen Charakter der Performance bald genug (gehört). Die, die bleiben, haben die Möglichkeit, sich selbst zu erleben auf einer die Ratio umgehenden, ja, ad absurdum führenden Ebene. Wer sich einlässt, und das ist Grundvoraussetzung für nicht nur die Rezeption, sondern das sich beteiligen Lassen an dieser dadurch spirituell interaktiven Performance, erlebte Vergessenes und Verschüttetes, Abgelehntes und Verdrängtes. Und hier ist Er-Leben wörtlich gemeint.

Lachambre und Morin balancieren zwischen Abstraktion, Experiment und intensiver sensorisch-emotionaler Erfahrung. Sie sprechen das Unbewusste, Archaische, Animalische (Anima, die Seele) in uns an. Die Erfahrung der Lebendigkeit, des Lebenswillens und der Kraft von unbewussten Aspekten unseres Selbst ist eine fundamentale. Es gilt, sie zuzulassen, ja, sie zu umarmen. Die Qualen, die Lachambre in die Welt heult, sind zweifache: Die des (abgelehnten) So-Seins und die durch das Anschauen des So-Seins hervorgerufenen. Lachambre3

Und die Katharsis? Durch sie wird der Mensch von der Repression befreit. Befreit von der Unterdrückung durch ungeliebte Persönlichkeitsanteile. Mit dem Anschauen dieser hebt man sie ins Bewusstsein und stellt damit Lachambres dumpfes Rufen der dunklen Gefühle aus betäubten Tiefen ab. 

Das Ende der Performance, die Synthesizer-Töne werden immer höher, weniger dissonant und leiser und Lachambre nähert sich mit seinem Gesang den Tönen der Maschine, weist den Weg in die innere Harmonie, in das Eins-Sein mit sich selbst. 

„Carthartic Quest“ von Benoît Lachambre und Félix-Antoine Morin am 01. und 03. August 2022 im Wiener Leopold Museum im Rahmen von ImPulsTanz.

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