Hauptkategorie: Magazin

KosovaKaum jemand wird mit Kosovo zeitgenössischen Tanz verbinden. Und da ist auch in der Tat noch ein Art Vorhang, der die Tänzer in Priština  vom globalen Geschehen trennt, ihre Sicht darauf  verschleiert – schwierige Alltäglichkeiten fordern viel Aufmerksamkeit.  Was aber dennoch an künstlerisch  Relevantem  passieren kann, ist  überraschend -  gleichermaßen für „beide Seiten“, wie Darrel Toulon bei seiner Arbeit mit dem dortigen Nationalballett feststellten konnte.

Einen Balletmeister gibt es im Nationaltheater von Priština nicht:  Das National Ballet of Kosovo trainiert, indem der eine oder andere  Tänzer jeweils die Leitung übernimmt. Die Ausbildungsmöglichkeiten beschränken sich auf private Balletschulen. Der Fokus liegt auf Erarbeitung einer Produktion. Was zählt, ist die nächste Premiere – woraus sich vor allem Produktionsdruck, aber kaum Gelegenheit zu künstlerischem Weiterkommen oder individueller  Entfaltung ergibt. Im zeitgenössischen Bereich gibt es zwar so etwas wie eine kleine „independent  scene“, die zu arbeiten versucht, Lehrer und Infrastrukturen fehlen ihnen aber völlig.

Von Zeit zu Zeit werden internationale Choreographen für die Erarbeitung von vorwiegend klassischen Produktionen  ans Opernhaus geladen.  Empfehlungen wie die der Chefin des Belgrader Tanzfestivals, die Darrel Toulon aus Marburg kennt und sein Projekt in Bratislava sah, können aber auch Einladungen an einen zeitgenössisch Arbeitenden bewirken. So erhielt der Grazer Ballettchef im Spätherbst 2013 über Umwege eine diesbezügliche Anfrage von der österreichischen Botschaft. Mit relativ konkreten choreografischen Plänen im Kopf verbrachte er im Februar 2014 zwei Tage vor Ort. Nach wenigen Stunden war ihm allerdings klar: Damit gäbe es kein Ankommen in dieser Kultur, die  Zusammenarbeit bliebe auf einer rein formalen Ebene. Authentisches könne sich für die Bühne aber nur im Gespräch mit den TänzerInnen ergeben.

Im Herbst dieses Jahres hatte Toulon die Möglichkeit, in einer Probenzeit von 5 Wochen vor Ort in diesem Sinne eine Choreographie für die Premiere am 30. Oktober zu erarbeiten. Im Gepäck hatte er einerseits eine Menge an Recherchiertem über diese Region – viel zu wenig habe er gelesen, konstatiert er im Nachhinein. Andererseits  eine „simple“ Frage an die Tänzer: „Wie alt warst du, als du bemerktest, dass sich etwas geändert hatte?“, also, dass  Krieg war. Alle TänzerInnen, die man jetzt in dem Stück „Your stories, my story“ sieht, waren damals Kinder. Langsam wurden ihre Geschichten unter der Decke einer Region, einer Gesellschaft „under construction“ hervorgeholt:  Vielschichtig sind sie und gehen tief in die Vergangenheit. Sie sind derart komplex, dass die  jeweiligen Abdeckungen nicht anders als hauchdünn sein können, also jederzeit einreißen, um Angestautem (überraschend) Luft zu geben: eruptiv und unter Umständen auch aggressiv  -  unverständlich, aus oberflächlicher Sicht.   

Die  Geschichten von sechs KünstlerInnen sind es, die die Basis für die Choreographie bilden. Für eine, von der der Balletdirektor des Hauses schon im Vorhinein ankündigte: „Es ist erstaunlich, wie es Toulon möglich ist, in fremde Seelen zu schauen, eine andere Kultur zu ergründen.“ Das derart erweckte Interesse des Publikums war groß, lockte auch ein kaum theater- oder gar tanzinteressiertes Publikum zu den  bislang vier Aufführungen.

Einfach war die Erarbeitung nicht gewesen. Grundsätzlich war den TänzerInnen eine Produktionsweise  in der  von Toulon gebotenen Art völlig unbekannt und  eine große Herausforderung für sie, die etwa so intensives und akribisches Arbeiten nicht gewohnt sind und die vor allem auch eines lernen mussten: eigenständig und mit Eigenverantwortung zu agieren. Aber auch alle beteiligten Techniker hatten „so etwas noch nie gemacht“, waren aber offen genug, nach kurzem Zögern das Neue  auszuprobieren.

Es war Pionierarbeit, das Hochemotional-Authentische künstlerisch umzusetzen, zu einer unpathetischen Bühnenabstraktion werden zu lassen. Es war ein erster Schritt und Toulon könnte sich gut vorstellen, weitere zu setzen, um dem zeitgenössischen Tanz in Priština einen Weg zu bahnen.