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Probe Sinfonie Nr15Mit seiner Spielzeitplanung holt Martin Schläpfer beim Wiener Staatsballett nach, was in Wien bisher sträflich vernachlässigt wurde: er baut die Brücke zwischen Neoklassik und zeitgenössischer Avantgarde. Denn während an der Wiener Staatsoper die akademische Tradition gepflegt wurde, lag das Tanzfeld der Moderne in der Nachkriegszeit jahrzehntelang weitgehend brach. Erst in den 1980er Jahren begannen sich neue Ansätze zu regen, damals vor allem unter dem Eindruck des Tanztheaters. Nun wird – endlich – die Tanzmoderne nachgeholt.

Um die Kunst der Gegenwart zu verstehen, sind historische Bezüge zumindest hilfreich. Wenn diese nicht vorhanden oder, wie im Wien, durch den Brain Drain der Nazizeit quasi mit einem Schlag vernichtet worden sind, fällt eine Einordnung ungleich schwerer. Da die Moderne und Postmoderne hierzulande fehlte, wird der zeitgenössische Tanz heute noch in einer Art Vakuum gesehen. Wenig ist passiert, um die Lücke zwischen der lebendigen Tanzszene zu Beginn des letzten Jahrhunderts und den jüngeren Entwicklungen zu schließen. Nie gab es dabei einen programmatischen Ansatz.

Schön also, dass Martin Schläpfer in seiner zweiten Spielzeit in Wien, diese Genese sichtbar und nachvollziehbar macht, etwa mit Werken von Merce Cunningham oder Lucinda Childs. Und es ist eine künstlerische Entscheidung, die sich bereits in der ersten Saison seiner Direktion abzeichnete, als mit Paul Taylor ein weiterer Protagonist der Tanzmoderne auf dem Spielplan stand. Die aus Corona-Gründen entfallene Premiere seines „Promethian Fire“ wird (ebenso wie „Beaux“ von Mark Morris) 2022/23 nachgeholt. Denn, so Schläpfer: „Alles gehört zum Ballett, auch neue Einflüsse“.Schlaepfer Martin 02

Dabei stellt der Wiener Ballettchef diese Tanzschöpfer in einen neuen Kontext – ohne Berührungsängste. Gut so, denn längst sind die Spannungen und Konflikte des 20. Jahrhunderts zwischen Klassik und Contemporary einer Pragmatik des Zeitgefühls gewichen, das in beiden Varianten unterschiedlich und doch gleichermaßen zum Ausdruck kommt.

Lucinda Childs, Ikone des Postmodern Dance und des Minimal Dance, hat durch ihre Zusammenarbeit mit Philip Glass Weltruhm erlangt. In Wien wird sie erstmals in die amerikanische Balletttradition eingebettet. Ihr „Concerto“ zur Musik von Henryk Mikołaj Górecki aus dem Jahr 1993 steht zwischen Jerome Robbins' „Other Dances“ zu Chopin und George Balanchines Titel gebenden Walzer von Johannes Brahms, der zuletzt 1991 in Wien getanzt wurde. Premiere des „Liebeslieder“-Abends ist am 14. Jänner 2022 in der Wiener Staatsoper.

Probe Sinfonie Nr15 01Auf „Kontrapunkte“ setzt der Dreiteiler, der am 4. Juni in der Volksoper Premiere hat. Hier bildet Merce Cunninghams vergnügliches Spiel des Paartanzes – „Duets“ zur Musik von John Cage – die Brücke zwischen zwei genialen Erneuerern des europäischen Tanzes. Von Hans van Manen, der 2022 seinen 90. Geburtstag feiert, kommen „Four Schuman Pieces“ zur Wiener Erstaufführung, während Anne Teresa de Keersmaeker Beethovens „Große Fuge“ mit dem Wiener Staatsballett einstudieren wird. Die drei Namen standen übrigens noch nie und nirgendwo gemeinsam auf einem Programmzettel.

Kreationen von Martin Schläpfer

Diese programmatische Sorgfalt, die in der ersten Saison der neuen Direktion nur sporadisch aufblitzen konnte, soll keinesfalls vom kreativen Input des Choreografen Martin Schläpfer ablenken, der 2021/22 zwei Uraufführungen sowie zwei Neu-Einstudierungen mit dem Wiener Staatsballett beisteuert. In seinen Werken „will er das Augenmerk nicht nur auf Tanz, sondern auf alles, was ihn so speziell macht, lenken“, sagt er. Also sind Tanz, Musik und Ausstattung gleichberechtigte Partner in seinen Werken.WSB STOP 03 Jahreszeiten

Das Hauptwerk der kommenden Spielzeit ist die Uraufführung von Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“ am 30. April 2022. Die musikalische Leitung wird in den Händen von Giovanni Antonioni, dem Gründer und Leiter des renommierten Barockensembles Giardino Armonico liegen. Die Kostüme wird Mila Ek – Tochter des legendären Choreografen Mats Ek – designen, und zwar „in einer Farbigkeit, an die ich mich erst gewöhnen muss“ (O-Ton Martin Schläpfer).

Schlaepfer RequiemEin weiterer Schläpfer-Abendfüller ist das bereits in der laufenden Saison geplante Werk „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms, das endlich (hoffentlich) am 30. September 2021 an der Volksoper zur Premiere kommt. Das Werk, das großteils barfuß getanzt wird, ist nicht religiös, auch wenn Schläpfer findet, dass „der Akt des Tanzens an sich religiös ist“, da er die Grundelemente des Lebens , wie Bewegung, Schwitzen, Atmen bzw. Atemlosigkeit in sich trägt.WSB VOP 01 Requiem

„Begegnungen“ heißt das Programm, für das Martin Schläpfer „In Sonne verwandelt“ zu Beethovens 4. Klavierkonzert, choreografieren wird. An diesem Abend wird der Solist des Wiener Staatsballetts Andrey Kaydanovskiy ebenfalls eine Uraufführung vorstellen, zu einer Auftragskomposition von Christof Dienz. In Kaydanovskiy, der als Choreograf international Erfolge feiert, zum Beispiel als Residenzkünstler beim Bayerischen Staatsballett (tanz.at berichtete), sieht Schläpfer einen eigenwilligen Künstler, der „nicht von Einflüssen infiltriert ist und sich nicht freistrampeln muss“. Das dritte Stück an diesem Abend wird „24 Préludes“ von Alexei Ratmansky sein, das ursprünglich für das Royal Ballet kreiert wurde. (2. Februar 2022, Volksoper)

Die Wiener Premiere in einer überarbeiteten und von Susanne Bisovsky neu ausgestatteten Version von Schläpfers „Marsch, Walzer, Polka“ zu Musikstücken der Strauß-Dynastie findet an einem Abend mit einer Uraufführung des gefeierten deutschen Choreografen Marco Goecke am 14. November 2021 statt. Der Titel des Abends „Im siebten Himmel“ bezieht sich auf Gustav Mahlers 5. Symphonie, die er komponierte als ihn die Begegnung mit seiner späteren Frau Alma Schindler in eben dieses Wolkenreich transportierte. Das daraus stammende Adagietto ist die musikalische Vorlage für Goeckes Stück. Auch bei diesem Programm weist „ein Balanchine“ darauf hin, wer zu Beginn eines veränderten Zugangs zum klassischen Tanz stand. Seine Interpretation von George Bizets Orchestermusik ist „wie Bleistift spitzen, voller Attacke und Feuer“, findet Schläpfer. 

STOP 04 MayrBalanchine ist auch prominent bei der die Saison beschließenden Nurejew-Gala (26. Juni 2022) sowie im Repertoire-Programm vertreten, zum Beispiel in den Mehrteilern „A Suite of Dances“ oder „Tänze Bilder Sinfonien“, dessen Premiere am 26. Juni 2020 die laufende Saison beschließt. Abendfüllende Ballette sind: John Crankos „Onegin“, „Giselle“, „Schwanensee“ und Schläpfers großartiges Wiener Debut „Mahler, Live“, das bisher nur online erlebbar war, an der Wiener Staatsoper. An der Volksoper bleibt Vesna Orlićs hinreißender „Peter Pan“ auf dem Spielplan. Dort bietet auch die „Plattform Choreografie“ eine Bühne für Kreationen von Staatsopern-TänzerInnen als NachwuchschoreografInnen. 

Und außerdem …Probe PicturesAtAnExhibition

Eine Reihe von Vermittlungsprogrammen begleiten die Saison 2021/22. Dazu zählen etwa Werkeinführungen, Tanzfilme oder Künstlergespräche. Am 21. März verlegt Martin Schläpfer eine öffentliche Probe zu „Die Jahreszeiten“ ins Festspielhaus St. Pölten und hält dort für Tanzstudierende eine Masterclass. Sofern es die Corona-Situation zulässt, werden die Open Classes für Studierende und fortgeschrittene TänzerInnen unter der Leitung des Ballettchefs, seiner Stellvertreterin Louisa Rachedi und anderen jeden Samstag Vormittag in der Ballettakademie wieder aufgenommen. Eine Stunde kostet € 20. Im Rahmen des Outreach-Programms der Wiener Staatsoper (unter der Leitung von Krysztina Winkel) gibt es in Zusammenarbeit mit Tanz die Toleranz und Superar wieder ein Tanzlabor für 10-15-Jährige, auch für jene, die das Tanzen erstmals und kostenlos probieren wollen.

In der ersten Saison, in der der Ballettclub des Wiener Staatsballetts nicht mehr eine separate Einrichtung sondern als integrierter Bestandteil dessen funktioniert, konnten 150 Mitglieder und € 20.000 an Sponsorenbeiträgen gewonnen werden. Die Einnahmen leisten beispielsweise einen Beitrag zur Gesundheit der TänzerInnen durch Unterstützung von präventiven oder physiotherapeutischen Maßnahmen.

Ein wichtiges Kapitel des Wiener Staatsballetts, die Ballettakademie, wurde von Direktor Martin Schläpfer bei der Spielzeitpräsentation 2021/22 ausgeklammert. Die Pläne für die Neuaufstellung der Schule werden im Herbst zusammen mit der künstlerischen Leiterin Christiana Stefanou separat vorgestellt.