Hauptkategorie: Wiener Tanzgeschichten

ErdmaennchenBei Rückblicken auf Spielzeiten oder Tanzfestivals kommen besondere Ereignisse zur Sprache, werden Programmtrends erörtert, Ausführende hervorgehoben, Entwicklungen aufgezeigt und in Relation zu Vergleichbarem gestellt. Zuständige KuratorInnen werden gelobt oder geschmäht. Nur eine beteiligte Körperschaft – (noch immer) tragende Säule aller theatralischen Unternehmungen – bleibt, wie gewöhnlich bei solchen Betrachtungen, beharrlich ausgespart: das Publikum.

Das Verhältnis zwischen AutorInnen – somit auch zwischen ChoreografInnen – und dem Publikum ist ein ganz besonderes. Ohne Zweifel weiterhin in Abhängigkeit zueinander stehend und somit aufs engste miteinander verbunden, scheint sich die Beziehung doch in einer Schieflage zu befinden. AutorInnen nämlich sehen es, gleichsam „ex officio“, als ganz selbstverständlich an, dass sie das Verhältnis bestimmen. Vom eigenen Ich als „Wahrheits- und Wissensträger“ ausgehend, pendelt ihr Bezug zum Publikum zwischen zwei Extremen: in dem einen sehen AutorInnen in der Zuschauerschaft Nichtwissende und Fantasielose, denen Wahrhaftiges und Aktuelles nahezubringen ist, das es darüber hinaus zu belehren oder aufzuklären gilt; das andere setzt die Anwesenheit des Publikums als gegeben voraus und lässt es dabei bewenden. Zu einem eigenen Thema wird das Publikum erst dann, wenn es – wie erst jüngst wieder formuliert – zukünftige Verhaltensregeln aufzustellen gilt. Die vom Publikum angeblich ständig angestrebte Intention, sich im Theater einfach „zurückzulehnen“, sei, so heißt es dann, in jedem Fall zu unterbinden.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat Peter Handke in seiner „Publikumsbeschimpfung“ dieses Verhältnis thematisiert. Da die „Zuschauerkarriere“ der Autorin in Sachen Tanz in den Entstehungsjahren dieses Sprechstücks wurzelt, scheint es an der Zeit, von Handke ausgehend, einen Seitenwechsel der Beschwerdeführer vorzunehmen. Im Folgenden soll mit der Autorin als Sprecherin eine Stimme des Wiener Publikums zu Wort kommen, die – aus dem Blickwinkel und der Seherfahrung von fünf Jahrzehnten heraus – Meinungen über ChoreografInnen äußert. Dem gesetzten Alter der Autorin gemäß, sollen die folgenden Betrachtungen nicht, wie dies bei dem damals noch jungen Handke der Fall war, in Form von Beschimpfungen, sondern als Bitten und Statements an die „Schöpfenden“ geäußert werden. Das folgende richtet sich also an ChoreografInnen, PerformerInnen, aber auch an jene, die sich selbst ganz anders bezeichnen. Da sich die Theaterlandschaft, insbesondere die Tanzszene, in den letzten fünf Jahrzehnten grundlegend verändert hat, seien die von Handke festgehaltenen Beschwerdepunkte, seitenwechselnd und den Tanz im Blick, erheblich erweitert.

ZuschauerInnen-Bitten

Fixieren Sie mit dem Veranstalter per Vertrag einen pünktlichen Beginn einer Vorstellung.

Versuchen Sie, sich über das, was Sie wollen, selbst im Klaren zu sein.

Versuchen Sie, Vorurteile abzubauen.

Stellen Sie sich auf eine variable Erwartungshaltung des Publikums ein.

Glauben Sie nicht, dass das Publikum das schon einmal Gesehene immer wieder zu sehen wünscht.
 
Bedenken Sie, dass das Publikum vielleicht nicht ganz dumm ist.

Glauben Sie nicht, dass das Publikum Dunkelheit braucht, um sich Dunkelheit vorzustellen.

Denken Sie daran, dass manche im Publikum nicht nur ihre Schaulust befriedigen wollen.

Vertrauen Sie auf die Seherfahrung des Publikums.

Wenn es Ihnen leichter fällt, das Gewünschte schriftlich zu formulieren, so verzichten Sie auf eine Bühnendarbietung.

Geben Sie stattdessen Bulletins aus und stellen Sie diese dann in soziale Netzwerke.

Machen Sie sich von dem Gedanken frei, dass das Publikum feste Vorstellungen von Theater hat.

Versuchen Sie nicht, das Publikum zu belehren.

Bedenken Sie, dass das Publikum – selbst wenn Sie im dunklen Zuschauerraum nur Reihen von Mustern sehen – nicht aus einer gleichgeschalteten Menge besteht.

Machen Sie sich von dem Gedanken frei, dass das Publikum sich amüsieren will.

Glauben Sie nicht, dass das Publikum sich Bilder von Ihnen macht.

Seien Sie sich dessen bewusst, dass das Publikum sich nur dann zurücklehnt, wenn das Gebotene langweilt.

Interessieren Sie sich für den Theaterbesucher als Individuum.

Bedenken Sie, dass das Denken des Publikums nicht langsamer ist als das Ihre.

Bedenken Sie, dass Gedankenwelten eher nicht körperlich darstellbar sind.

Kondensieren Sie Ihre Gedankenwelt auf das, was Sie selbst körperlich ausdrücken können.

Versuchen Sie – wenn auch nur vorübergehend – auch einen Blick in verwandte Genres zu tun.

Befassen Sie sich – es erweitert durchaus den Horizont – mit Bewegungsgeschichte.

Kondensieren Sie ihr Stück, wenn Sie glauben, damit fertig zu sein.

Das Publikum versteht den Unterschied zwischen „gespielter Zeit“ und „Spielzeit“.

Glauben Sie nicht, dass die Art der Platzierung des Publikums notwendigerweise die Wirkung Ihres Stücks erhöht.

Das Publikum erkennt es, wenn Sie „um der Wirklichkeit willen“ tanzen.

Greifen Sie die Idee der „selbstbeweglichen Requisiten“ weiter auf.

Verlassen Sie sich für das eigene Stück nicht auf die eigenen dramaturgischen Fähigkeiten.

Lassen Sie sich vom Schweigen des Publikums nicht täuschen.

Lassen Sie sich von Äußerungen des Publikums nicht irritieren.

Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das Publikum nicht starr ist.

Das Publikum erkennt, wann eine Raum offen ist und wann geschlossen.

Bedenken Sie, dass ein für Sie selbst therapeutisch wirkendes Stück, nicht denselben Effekt auf das Publikum haben muss.

Denken Sie daran, dass Heutiges morgen gestrig ist.

Unterscheiden Sie zwischen einer gestalteten und einer nicht gestalteten Leere.

Das Publikum erkennt – Ihr diesbezügliches Können vorausgesetzt – welche Art von Realität es vor sich hat.

Ungestaltetes Nichts braucht kein Publikum.    

Wenn Sie kein Publikum wollen, scheuen Sie sich nicht, dies – rechtzeitig – mitzuteilen.

Bedenken Sie, dass auch das Publikum ein Körpergedächtnis hat.

Das Publikum versteht, dass die Außenwelt nicht abgeschnitten ist.

Auch das Publikum kennt die Literatur, die Sie gelesen haben.

Bedenken Sie, dass auch sie nur „Spielfigur“ sind.

Wenn Sie einen Dialog mit dem Publikum wünschen – gleichgültig ob dieses steht oder sitzt – tun Sie dies rechtzeitig kund.

Lassen Sie zu, dass auch Sie als „Anderer zum Alltäglichen“ hinzukommen.

Gestalten Sie Ihre Hinführungsprozesse nicht allzu plump.

Setzen Sie Ihre Weltveränderungsbestrebungen dann ein, wenn Chancen auf Reaktionen bestehen.

Vergessen Sie etwaige pädagogische Talente und setzen Sie diese im Unterricht ein.

Das Publikum hat verstanden, dass Sie zuweilen „Großaufnahmen“ oder gar „Totale“ zeigen.

Versuchen Sie, eine eigene Bewegungssprache zu finden.

Teilen Sie nicht Rollen zu, und übersehen dabei die Rolle, die ihnen zugeteilt wurde.

Lernen Sie, an sich neue Rollen zu entdecken.

Woher glauben Sie zu wissen, dass das Publikum unbedingt auf seine „Rechnung kommen“ will?

Das Publikum hat verstanden, dass Sie im Jetzt agieren.

Das Publikum möchte zur Kenntnis bringen, dass es sich „freigespielt“ hat.

Bedenken Sie, dass die Fortsetzung eines Stücks nach einer vom Publikum als „Schluss“ empfundenen Sequenz Verstimmung erzeugen kann.