Am 6. Juli 2015 feiert die Welt die 150. Wiederkehr des Geburtstags von Émile Jaques-Dalcroze. Der in Wien geborene Schweizer legte mit der von ihm entwickelten „Rhythmischen Gymnastik“ (später: „Rhythmik“) auch die Grundlage für den Modernen Tanz. Die Universität für Musik und darstellende Kunst ehrt den Jubilar mit dem groß angelegten Kongress „2nd International Conference of Dalcroze Studies – ‚The Movement Connection‘“ (26. bis 29. Juli 2015).
Blickt man auf die Entwicklung der Bewegungskünste des 20. Jahrhunderts, so sind bestimmte Linien auszumachen, die entweder durch eine erkennbare Kontinuität oder aber durch eine gewisse Distanz zum Vorhergehenden charakterisiert sind. Beides trifft etwa für William Forsythe zu, dessen Verwandtschaft zu George Balanchine zunächst klar erkennbar, in späteren Werken jedoch weniger ersichtlich ist. Selten – im Laufe des 20. Jahrhunderts vielleicht zwei Mal – kam es aber im Hinblick auf künstlerische Entwicklungslinien zu einer radikalen Umkehr zu allem gewesenen. Plötzlich war die alte Ästhetik ebenso außer Kraft gesetzt wie ihre Mittel und Formen, plötzlich waren die Weichen für grundlegend Neues gestellt. Die großen „Weichensteller“ des vergangenen Jahrhunderts sind Émile Jaques-Dalcroze und Merce Cunningham. Im Gegensatz zu Cunninghams Arbeit ist das revolutionäre Wirken von Jaques-Dalcroze sowie dessen Nachhaltigkeit heute allgemein weniger bekannt. Dies obwohl gerade sein Tun sehr bewusster Teil unseres heutigen Körperwissens ist. Mit seiner Methode, musikalischen Rhythmus körperlich sichtbar zu machen – er nannte sie „Rhythmische Gymnastik“ –, drang der Musikpädagoge zum Menschen selbst vor, befreite ihn von allen einengenden Mänteln, die ihn bislang gehemmt hatten: von denen der Konventionen, jenen des Geschlechts, der Gesellschaft, der Nation. In der für ihn gebauten Bildungsanstalt in Hellerau bei Dresden kreierte er ab 1911 von der Welt vielbeachtet einen „neuen Menschen“.
Heute wird Hellerau als Wirkungsstätte einer zentralen charismatischen Persönlichkeit gesehen, der es gelungen war, einen jahrhundertealten Traum zu realisieren, nämlich den des Zusammenwirkens von Musik und menschlichem Körper. Man wertete das Resultat als den geglückten Versuch, alle Utopien der Jahrhundertwende – Schulreformen, Lebens-, Gesellschafts- und künstlerische Reformen – gebündelt zu haben. Die Erziehungs- und Bildungsinstitution wurde zum Vorposten künstlerischer Bewegung, künstlerisches Laboratorium, des Weiteren beispielhafte soziokulturelle Einrichtung, von der wegweisende Impulse für das gesamte 20. Jahrhundert ausgingen. Der „neue Mensch“, das war der sich frei bewegende Mensch, die körperliche Bewegung wurde in der Folge wesentlichstes Merkmal aller darstellenden Künste. Im Festsaal sah man – gekleidet in Adolphe Appias berühmtem „schwarzen Trikot“ – körperlich sichtbar gewordene Musik, Körper vom Rhythmus diszipliniert und in Raum und Zeit geformt. Worüber Wagner und Nietzsche, Appia und Fuchs, Schmidt und Tessenow, Lussy und Claparède, oder Ibsen und Hofmannsthal geschrieben, was bildende Kunst, Malerei und Plastik, gleichsam vorformuliert hatten, in Hellerau schienen literarischer Text und festgehaltenes Bild endlich verlebendigt! Dass der Tanz des „neuen Menschen“, der sich bald mit den Ideen von Jaques-Dalcroze als Basis zu entwickeln begann, nun anders geartet war als jener der Vorlebenden, versteht sich von selbst.
Nun könnte gefragt werden, was das alles mit Österreich im Allgemeinen und Wien im Besonderen zu tun hat. Die Antwort ist schnell gegeben, denn die „Strahlkraft“ des am 6. Juli 1865 in Wien (Am Hof 8) Geborenen reichte weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, es umfasst – mit Wien als einem Zentrum – jenen „kulturellen Raum“, der in den letzten Jahrzehnten wieder zu einem „Mitteleuropa“ zusammenwuchs. Wie rasant sich etwa das Gedankengut von Jaques-Dalcroze in der Hauptstadt der Monarchie ausbreitete, zeigen die folgenden bis 1914 gesetzten Aktivitäten. Abgesehen davon, dass Jaques-Dalcroze in Wien am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde studiert hatte (1887-1889), er selbst mit eigenen Kompositionen (1904, 1906 und 1910) im Wiener Musikverein vertreten gewesen war, veranstaltete er 1909 im Großen Saal des Musikvereins die erste Wiener Vorführung seiner neuen Methode. Die Resonanz darauf übertraf alle Erwartungen, sie entsprach dem hohen Grad der Akzeptanz, den die neue Methode in Deutschland gefunden hatte. Schon 1912 kam es zur Gründung der Zweiganstalt Wien der Hellerauer Bildungsanstalt durch Eduard Favre und Suzanne Perrottet. Ein Jahr später choreographierte Perrottet das „Tannhäuser“-Bacchanal an der Hofoper. 1914 schließlich führte Jaques-Dalcroze einmal mehr seine Methode im Musikverein vor. Und im selben Jahr zog mit Gertrud Wiesenthal – eine Schwester von Grete – die Rhythmische Gymnastik in die Akademie für Musik und darstellende Kunst ein.
Dass gerade dieses Heben der späteren „Rhythmik“ auf eine institutionalisierte Ebene – dem Ausbruch des Krieges zum Trotz – seine Auswirkungen haben könnte, war zu erwarten. Nicht zu erwarten war jedoch, dass das ab 1914 führungslose Mutterinstitut – man hatte Jaques-Dalcroze „unpatriotischer“ Äußerungen wegen aus Deutschland vertrieben – einmal in Laxenburg bei Wien eine neue künstlerische Heimat finden sollte. „Hellerau-Laxenburg“ hieß ab 1925 die neue Ausbildungsstätte, diese führte, freilich bereits unter anderen Blickwinkeln, die Ideen von Jaques-Dalcroze fort. Die herausragende Künstlerpersönlichkeit dieses Institutes war Rosalia Chladek. Sie zeigte sowohl mit ihrem künstlerischen wie ihrem pädagogischen Lebenswerk, wie vielseitig auslegbar das Gedankengut des Meisters war. Der „magische“ Eindruck, der Chladek einst als junge Hellerauer Studentin beseelt hatte, blieb ihr ihr ganzes Leben lang präsent.
Erst Ende 2014 entschloss sich das offizielle Deutschland, freilich indirekt, zu einer Würdigung von Jaques-Dalcroze, seinem Wirken und seiner Wirkung. Betrieben von Claudia Fleischle-Braun, wurde unter dem Titel „Moderner Tanz – Stilformen und Vermittlungsformen der Rhythmus- und Ausdrucksbewegung“ auch sein Gedankengut in das deutsche Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen.