Suzanne Perrottet lebte für ihren Beruf. Als Lehrerin für „Rhythmische Gymnastik“, wie sie es nannte, war sie eine selbstbestimmte Frau, was zu ihrer Zeit eher selten und gar nicht selbstverständlich war. Intuitiv und gleichzeitig beharrlich entwickelte sie ihren Unterrichtstil, in dessen Mittelpunkt „der befreite Mensch“ stand. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis zahlreicher Gespräche, die der Fotograf, Ausstellungsmacher und Herausgeber Giorgio Wolfensberger mit der Vorreiterin für die Tanzpädagogik und –therapie geführt und aufgezeichnet hat.
Nach ihrem plötzlichen Tod im August 1983 im Alter von 94 Jahren lag es auch an Giorgio Wolfensberger, ihr umfangreiches Archiv zu sichten, zu bewerten, zu ordnen. „Die Befreiung des Körpers. Erinnerungen“ ist der erste reichhaltig bebilderte Band der zweiteiligen Darstellung von Leben und Werk der Schweizer Ausdruckstanz-Pionierin, die ihre Berufung vor allem in der Pädagogik fand.
Perrottet, 1889 in Genf geboren, erhielt ihre musikalische Ausbildung am dortigen Konservatorium, wo sie auch am Unterricht von Jaques-Dalcroze teilnahm. Ihn begleitete sie 1910 nach Hellerau, um dort eine Schule für Gymnastik und künstlerischen Tanz aufzubauen. Zu ihren Schülerinnen zählten Mary Wigman, Marie Rambert und Gustav Güldenstein. 1913 schickte sie Jaques-Dalcroze nach Wien, um dort eine Dalcroze-Schule zu etablieren. Doch nach und nach begann Perrottet seine Methode zu hinterfragen, was der Meister nicht gerne sah. In dieser Phase war die Begegnung mit Rudolf von Laban wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur, dass er eine Tanzbewegung unabhängig von Musik propagierte, führte er auch ein Leben der freien Liebe. Zusammen mit Maja von Laban und ihren Kindern lebten sie in einer Menage à trois. Die Künstlergemeinschaft auf dem Monte Verità, die Einflüsse der Dada Bewegung, Laban, Geliebter und Vater ihre Sohnes Aller (der sich später André Perrottet von Laban nannte), sollten ihr weiteres Leben prägen. 1919 übersiedelte Suzy – wie sie genannt wurde – nach Zürich und gründete dort ihre eigene „Schule für Eurythmie“, die im Laufe ihres Bestehens mehrmals ihren Namen ändern. Ihre SchülerInnen wie Max Terpis, Vera Skoronel, Ria Ryser und Trudy Schoop sollten später einflussreiche Tanzpersönlichkeiten werden. Perrottet selbst bildete sich ebenfalls weiter: Bei Anna Ornelli in München nahm sie klassischen Ballettunterricht. Sie fuhr nach Dresden, um bei ihrer ehemaligen Schülerin Mary Wigman, Stunden zu nehmen. Denn: „In tänzerischer Hinsicht hatte ich bis dahin ja sehr wenig Unterricht gehabt“. Doch die Übungen bei Wigman fand sie „eigentlich unsympathisch … nicht der richtige Weg für mich.“
1939 war Suzanne Perrottet Gründungsmitglied des Schweizerischen Bundes für Tanz und Gymnastik, einen bis heute aktiven Berufsverband. Dieser wurde notwendig, um am Tänzerkongress und Wettbewerb an der Landesausstellung teilzunehmen. Alles, was Perrottet tat, stand nämlich im Dienst „ihrer Sache“. „Ihr Lebensziel, wenn man überhaupt davon sprechen kann, war: der befreite Mensch“, resümiert Giorgio Wolfensberger. Diesem Ziel ordnete Perrottet alles andere unter, denn „die Rhythmische Gymnastik [ist] ein wichtiger Faktor der Erziehung und der Menschenbildung“, war sie überzeugt. Wenig erzählt Perrottet über die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit, vieles über ihre Aktivitäten und einiges über ihre Ansätze mittels Bewegung zur Befreiung des Menschen beizutragen, ein Unterfangen, das den realpolitischen Tendenzen diametral entgegen zu stehen scheint. Kurz erwähnt sie, dass Laban bei den Nazis in Ungnade gefallen war: „Alle Labanschulen wurden 1936 für staatsfeindlich erklärt, was unerwartet kam, da Laban bei den Nationalsozialisten zunächst sehr gut angesehen war“, und plaudert dann – völlig apolitisch – von ihrem Wiedersehen beim Tänzerkongress in Paris und im Exil in England, wo Laban nach seiner Emigration in der von Kurt Jooss und Sigurd Leeder in Dartington Hall gegründeten Tanzschule arbeitete. In der Chronologie endet der erste Band der Biografie mit der Begegnung mit der österreichischen Ausdruckstänzerin Rosalia Chladek, die Perrottet nach eigenen Angaben 1947 kennenlernte. Für Chladek hatte sie eine besondere Wertschätzung, die sich auch in einer langjährigen Zusammenarbeit etwa im Rahmen der von ihr veranstalteten Sommerkurse niederschlug.
Suzanne Perrottet erzählt ihre Erinnerungen zur „Befreiung des Körpers“ sehr lebhaft und anschaulich, zahlreiche Fotos illustrieren ihr erfülltes Leben. Mit ihren unverblümten, direkten Schilderungen wirkt sie sympathisch und offen. Ihre Erfolge im therapeutisch-pädagogischen Umfeld beruhen, wie sie selbst sagt, nicht auf einer Methode, sondern auf einem hohen Maß an Empathie. In ihrer Schule unterrichtete sie Tänzer, Schauspieler, Kinder und Erwachsene, darunter Menschen mit körperlichen und seelischen Problemen. Sie veranstaltete Aufführungen mit Schulen, Vereinen oder Lesezirkeln. Einige Ärzte, darunter der Psychoanalytiker C. G. Jung schickten ihre Patienten zu Perrottet, die mit ihrer intuitiven Art einen Zugang zu Menschen fand. „In meinem Unterricht habe ich … nie doziert, oder die Schüler gezwungen etwas zu tun, was sie nicht wollten. Ich wollte, dass sie ganz sie selbst sind … Deshalb habe ich auch nie eine Methode gehabt. Vieles habe ich mir aus Instinkt angeeignet, oder in meinem Unterricht ganz intuitiv entwickelt. Für jeden Schüler hatte ich eine eigene Art, mit ihm zu arbeiten“, sagt sie.
Auf einer Metaebene verweisen die Erzählungen dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit auf heutige Tanzentwicklungen, deren Wurzeln nur zu oft vergessen werden. Der zweite Teil wird daher mit großer Spannung erwartet!
Suzanne Perrottet: „Die Befreiung des Körpers. Erinnerungen“, Nimbus Kunst und Bücher AG, Wädenswil am Zürichsee, Schweiz, 2014
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