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BojiEs gibt manchmal auch gute Nachricht. Jedenfalls dann, wenn - wie alle zwei Jahre - in dieser „Grazer Premierenwoche der freien Theater“ der Vorhang gelüftet wird: für Produktionen, die eine dreiköpfige Jury (2023: Felizitas Stilleke, Martin Pesl und der künstlerischer Leiter des Festivals Peter Faßhuber) aufgrund eingereichter Konzepte zur Umsetzung und Präsentation in diesem Rahmen ausgewählt hat. 

Gute Nachricht insofern, als die künstlerische Qualität jeder einzelnen Aufführung immer wieder hoch und in ihrer jeweils sehr individuellen Art bemerkenswert ist. Die formale Bandbreite bezeugt einerseits die seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten bestehende Lebendigkeit dieser regionalen Theaterszene; andererseits führt sie beispielhaft vor Augen, was zeitgemäß an Ausdruckskraft - ob mehr oder weniger experimentierfreudig und spartenübergreifend - in dieser performativen Kunst steckt. An Aktualität und nachdrücklicher wie nachhaltiger Öffnung so mancher Augen.MATRIA2

Und so sind freilich die Inhalte der kreativ vermittelten „Nachrichten“ bei weitem nicht nur gute, um nicht zu sagen: Sie sind es kaum. Vielmehr ziehen sich heuer rote Fäden, gewoben aus Befreiungs- wie Ordnungs- und Wahrheitssuche, lose verbunden durch Verunsicherung und Angst, aber auch Auflehnung und Wut mehr oder weniger deutlich, direkt oder indirekt durch die Produktionen. 

„Mensch will allen Vorspiegelungen glauben“, heißt es im Eröffnungsstück „BOJI“, in dem Franz von Strolchen in einem anspruchsvoll fein durchdachten Zusammenspiel von Text, Video, bewegten Installationen und Performativem sowie gleichermaßen ohrenverdrehender wie ohrenschmeichelnder Livemusik (Anna Anderluh) von einem Hund erzählt, diesen erzählen lässt. Fabelartig, vieldeutig und vieldeutbar. Die Kraft der Manipulation durchdringt, überschwemmt in Variationen die Suchenden, Bedrohten, Heimatlosen. Die Wahrheit der Angst vermengt sich mit Absurdität „…dass schon immer etwas nicht gestimmt hat“ stimmt nicht gerade beruhigend, sondern hallt nach, ins Jetzt und in Zukünftiges. Und doch keimt für das Publikum in all der Überforderung der Sinne und ihrer Gereiztheit etwas…

Silhouette of armored police officers  running  in front of the fireInhaltlich sehr offen und gleichzeitig atmosphärisch dicht entfaltet sich in Johannes Schrettles (Performance, Konzept) charakteristischer Art Zeitgeistiges: das bedrohlich Nicht-zu-Greifende. „SYMPTOME, ein „Musical, angeklebt an reale Verhältnisse“, ist ein Spiel im Spiel, ist Abbild der Verunsicherung und Angst. Der zum fiktiven Beobachter Reduzierte beschreibt, gibt (Bühnen-) Anweisungen aus seiner Außensicht, ohne einen Fokus zu haben, ohne die Richtung zu kennen. Angedeutete Dialoge verkommen zu Monologen der Hilflosigkeit. Man dreht im Kreis, im Loup. Die feinnervige Bühnenpräsenz von Christina Lederhaas berührt in ihrem Schreien, Brüllen, Kotzen. Ihre tänzerischen Bewegungssequenzen lassen die Umtriebigkeit Hilfloser ahnen, den Text griffiger werden, die absurde Suche nach Ordnung und Halt erfühlen. Verloren in diesem Geschehen bleibt nichtsdestotrotz so mancher im Publikum zurück; verunsichert, weil Nähe zur Realität unter die Haut kriecht.  MentalMuscle

Unförmige, weitgehend mit Luft gefüllte graue, dünnhäutige Plastik-Ungetüme stehen für das, was der „MENTAL MUSCLE“, wie der Titel des performativen Walks lautet, tagein tagaus zu ragen hat. Die unzähligen und nicht immer freiwilligen ‚Mitkümmerinnen‘ sind es, die über diese mehr oder weniger geballte Kraft verfügen und/oder zu verfügen haben: in der Familie, im Beruf, in der Freizeit, immer, wenn es was zu tun, ein Problem zu lösen, Tränen zu trocknen, Chaotisches zu ordnen gilt …für andere, ab und zu mit anderen. Dafür bräuchte es so manches Mal viele Arme oder aber eben sehr, sehr lange, wie es Lisa Horvath mittels schier endloser Hoody-Ärmeln den beiden Protagonistinnen verpasst: Ursula Graber und Hanna Rohn (beide: aus Konzept, Entwicklung, Performance) visualisieren im Umgang mit diesen Requisiten anschaulich, was Frauen leisten: Es sind symbolische Handlungen und Gesten, zum Teil offen für individuelle Deutung – aus Eigenerfahrung kennt die eine oder andere, zumeist auch viele jede! Die spielerische, ansatzweise tänzerische Leichtigkeit in diesem Tun, ist wunderbar fern jeder anklagenden Faust; einprägsam allemal. Konkreter wird es, wenn auf gestellte Fragen zu eigenen Alltagserfahrungen jede(r) aus dem in einer Linie aufgestellten Publikum mittels Schritt nach vorne mit ja oder nein antworten soll. Oder auch, wenn es gilt, auf bereitgestellten Kartons eine Forderung, Bitte, Anklage zum Thema Care-Arbeit und Gender-Thematik zu schreiben; um damit dann in einem schweigenden Demonstrationsmarsch der Öffentlichkeit bei einem kurzen Marsch durch kleine Gassen Gedachtes und Erfahrenes kundzutun. Die Tatsache der Überforderung oder auch Angst vor dieser, vor Versagen vermischt sich zeitweise etwas unklar mit Aufbegehren, Wut oder aber auch Stolz auf die eigene Leistungsfähigkeit: Was soll hier eigentlich vordringlich kommuniziert werden? Angekommen sind aber auf jeden Fall zahlreiche Denkanstöße, so manche Bewusstmachung und Diskussionen im Anschluss.

TAODer erstmals vergebene Publikumspreis ging sehr, sehr knapp, aber eben doch und sehr nachvollziehbar an „SAGDOCHMALLUCA“, eine Koproduktion von TaO! und Next Liberty. Mit jugendlich dynamisch-charmanter Ernsthaftigkeit verhandeln die jugendlichen DarstellerInnen einen Vorfall im Umkleideraum. Mit mitreißender Authentizität beschreiben, analysieren und spielen sie in Rückblenden die Geschehnisse. Mit der ihnen jeweils eigenen Emotionalität und Individualität entwickeln sich glaubhaft wie widersprüchlich die jeweiligen Perspektiven. Ihre Suche nach DER Wahrheit führt immer deutlicher zur Erkenntnis, dass es eine solche nicht gibt. Und dann ist da noch – zwischen den Zeilen respektive Szenen, dass der verhandelte Luca sich nicht in das binäre System von Mädchen und Bub einordnen will… . Manfred Weissensteiner gelingt bei aller aktuellen Wichtigkeit der Thematik mit seinem Team – nicht zu vergessen das ebenso einfache wie funktionelle und ansprechende Bühnenbild von Imelda Kuntner – eine Inszenierung, die ein respektive zwei inhaltliche Schwergewichte geradezu schwerelos transportiert. 

STERNE…ODER ICH BIN EINE KUGEL“: Für alle Menschen ab 6 Jahren öffnet diese Produktion des Mezzanintheaters eine Tür zu möglicher, zu wünschenswerter, zu notwendiger Toleranz. Die Performance von Nora Winkler und Dominik Jellen ist - bis auf kleine Längen – kurzweilig und auch fantasieanregend. Immer wieder trifft sie in und mit ihrem Minimalismus in der Umsetzung charmant wunde Punkte – bei Menschen jedes Alters; und vor allem gipfelt in einer wunderbaren Schlussszene, wo endgültig stimmig und für jede Altersstufe nachvollziehbar wird: Nichts ist schwarz oder weiß! Eine Ordnung in Maßen ist notwendig, kann Halt geben; Einordnung von allem und jedem in Gut oder Böse, Groß oder Klein, Rund oder Eckig ist es nicht – weder notwendig noch richtig!Matria1

Als Gastvorstellung zum Abschluss des Festivals: „MATRIA – MOTHERLAND“. Diese Produktion der in Berlin lebenden argentinisch-spanischen Tänzerin und Choreografin Rocio Marano ist – in enger Verbundenheit mit der live Musik und Performance von Ángela Muños - ein unverblümtes Feuerwerk weiblicher Bewegungs- und Selbstbehauptungskraft: Als Frauen; als Künstlerinnen der anderen, der kompromisslos ihren Art; als Vertreterinnen all der wenig Beachteten und Gehörten, der Bevormundeten. 

Runde um Runde ziehen sie (Stepp-) Schritt um (Stepp-) Schritt zu Anfang ihre Kreise: synchron, gleichermaßen geduldig wie zielstrebig – unbeirrbar. Bis sich im Blickkontakt das Gleichgesinnte formiert und sie (symbolisch) ihre Säbel zur Auflehnung ziehen. In einer Art Rückblick handeln sie ihre Rollen aus, rekapitulieren sie, wie sich Unterdrückung, ja Versklavung anfühlt. Um dann, im achtsamen, variationsreichen Dialog der Töne und Bewegungen ihrer Wut, ihrer Aggression gegenüber Gegebenheiten freien Lauf zu lassen. Ja, sie stellen wohl auch, wie im Programmheft formuliert, „westliche Ästhetik in Frage“, lösen „den disziplinarischen und patriarchalen Aspekt des Stils…“, des Malambo, auf. Ein Schlüssel zur Performance scheint aber in den Zeilen des Payada zu liegen: „… Extraktivismus ist brutal / sei nicht so gierig / lass die Berge bestehen / ihr Weißen, bitte werdet erwachsen…“

newsOFFstyria, 12. bis 15.September 2023 in verschiedenen Spielorten in Graz, www.theaterland.at