Was erzählt Musik über die Welt, in der wir leben und jene vor uns? In seiner neuen Arbeit, „Zeit-Bild“ mit Tänzerinnen und Tänzern des BODHI PROJECTS der in Salzburg beheimateten SEAD Company spürt der französische Choreograph Etienne Guilloteau diesen Fragen nach und lässt diese zeitgenössischen Perspektiven in eine Körperlichkeit fließen. Entstanden ist das Stück im Auftrag der Stiftung Mozarteum Salzburg im Rahmen ihres Musikfestivals „Dialoge“.
Einsam steht sie auf der Bühne. Die Augen sind geschlossen. Sanft setzt sich ihr Körper in Bewegung. Nach und nach gesellen sich Tänzer und Musiker zu ihr, das Licht wird heller. „Zeit-Bild“ beginnt als ein zärtliches Erwachen. Vorgabe war eine Choreografie zu entspinnen, die sich dem heurigen Festivalschlagwort „Zeit“ widmet. Als musikalische Grundlage sollten Werke der Komponistentrias W. A. Mozart, Morton Feldman und Beat Furrer dienen. Guilloteau ist mit Mozarts Musik seit Studienzeit vertraut, zu Feldman hat er in der Vergangenheit selbst getanzt. Der Franzose holte seine künstlerischen Weggefährten Alain Franco (Musik), Hans Mejer (Licht) und Anne-Catherine Kunz (Kostüm) ins Boot. Musikdramaturg Franco erweiterte die Collage um Maurice Ravel, Eliott Carter und György Ligeti. In nur sechs Wochen Probenzeit entstand so eine Arbeit, die an einem kontemporären Blickwinkel lehnt, jeder Zeit und somit jedem Komponisten einen menschlichen Typus zuordnet.
Diese jeweilige Gegenwärtigkeit manifestiert sich nicht nur im Äußeren durch Kleidung etwa, sondern setzt sich bei Guilloteau tief ins Verhalten und Psychologische fort. Innere Dramen einer Epoche übersetzt Guilloteau in eine spezielle Körperlichkeit, die sich am Puls dieser Zeit abarbeitet, wie eine Sensibilisierung der Sinne, die ihre Schärfe durch Reflexion und Zulassen erlangt. Wird bei Mozart ein fröhliches Miteinander Zanken und Scherzen zelebriert, das an einen plaudernden Springbrunnen im Sommersonnenlicht erinnert, steht zu den Tönen der Zeitgenossen das Verlangen nach Abgrenzung im Vordergrund. Eindrucksvoll gießt Guilloteau den inneren Konflikt des modernen Menschen in Bewegungsformen, zeigt die Zerrissenheit zwischen dem Verlangen nach Gemeinschaft und Verbindung und jenem nach einer radikalen Individualität. Immer wieder schweift der Blick der Tänzer still in die Ferne, als läge das Ziel des ureigenen Sehnens weit außerhalb des Selbst. Diese Individualisierungsdrang des menschlichen Wesens wird ebenso von den Kostümen reflektiert. Sind deren Farben anfangs gedeckt und eher monoton, unterscheiden sie sich sukzessive durch die Knalligkeit. Auch die sieben Livemusiker des Österreichischen Ensembles für Neue Klassische Musik (oenm) sind Teil dieser historisch-musikalischen Menschenforschung. Während der gesamten Dauer der Aufführung sind sie auf der Bühne präsent und streckenweise aktiv in die Choreografie eingebunden. Was Guilloteau grandios gelingt, ist den natürlichen Typus der Tänzer zu erhalten und ihn dennoch um eine choreografierte Körperlichkeit zu erweitern. Prozess und Natur verschmelzen so untrennbar. Wundervoll gelingt auch Alain Franco das Ineinanderfügen des musikalischen Bogens.
„Zeit-Bild“ war der interdisziplinäre Höhepunkt des heurigen „Dialoge“ Festivals, das alljährlich rund um den Sterbetag des genius loci Wolfgang Amadeus Mozart (5. Dezember) stattfindet. Die Programmatik des künstlerischen Leiters Matthias Schulz verfolgt ein Erleben von Mozarts Musik im Zwiegespräch mit Neuer Musik und anderen Kunstformen, um die klassische Konzertrezeption aufzubrechen. 2015 waren die auserwählten musikalischen Gesprächspartner der US-amerikanische Komponist Morton Feldman sowie der gebürtige Schweizer Beat Furrer. „Zeit-Bild“ vereint die renommierten Salzburger Institutionen SEAD, oenm und die Stiftung Mozarteum im Haus der Szene Salzburg. Mitte März 2016 wird die Arbeit beim Osterfesitval Tirol in Hall i. T. zu sehen sein.
SEAD’S BODHI PROJECT und Östereichisches Ensemble für Neue Klassische Musik: „Zeit-Bild“ am 27. November im republic Salzburg im Rahmen des Festivals Dialoge