Ein Abend, der unter dem Titel „Und der Himmel so weit“ vielerlei an Erwartungen weckt und bei der Premiere, der zweiten des Grazer Ballettchefs Jörg Weinöhl im Opernhaus der Stadt, so manches an Überraschung barg. Kaum zufällig - steht er doch für das Werk eines Komponisten, der als Person viele Fragen offen lässt und dessen Musik in ihrer Dimension immer wieder weitere, neue Räume eröffnet.
Der vom Choreographen sehr bewusst ausgewählten, weiten Klangpallette muss sich allen voran das Grazer Philharmonische Orchester unter einem differenzierenden Leiter, dem Dirigenten Leonhard Garms, stellen. Dies nicht nur, weil die Sätze aus Schuberts Symphonien sowohl aus seinem Spät- wie Frühwerk stammen – die Breite seines Schaffens soll derart zumindest angedeutet werden - , sondern zusätzlich, weil die drei seiner zitierten Lieder in einer transformierten Fassung der international gefragten Komponistin Isabel Mundry zu hören war. Da des Dirigenten Interesse ganz besonders zeitgenössischer Musik gilt, war für ihn die als Eröffnung wiedergegebene Liedfassung zweifellos weit weniger überraschend als für das Publikum, das in der präsentierten Geräuschkulisse mit Gesprächsfetzen zumeist wohl erst langsam die im Hintergrund angedeuteten Schubertschen Liedpassagen erkannte; gedacht als Zeichen des Überganges vom Alltag mit seinem Wirrwarr an Tönen in die fiktive Welt der Bühnen-Kunst.
Das Thema des Wechsels von da nach dort wiederholt sich konsequent und immer einprägsamer im Laufe des Programms: In der ansprechend klaren, zurückhaltenden Bühnengestaltung von Saskia Rettig, die nicht nur die drei gegebenen Räume in harmonischer Verbindung zueinander zu gestalten weiß, sondern etwa auch eine fließende Auflösung des Althergebrachten (Biedermeier-Raum) durch Hebung der Wände bewerkstelligt. Vergleichbar überzeugend die diskrete, aber nicht minder wichtige Lichtgestaltung durch Kai Luczak: So wird der mehrfache Sonnenaufgang lediglich durch mehr an einfallendem Licht angedeutet, vor allem aber durch die faszinierte Reaktion der Menschen. Diese kleine Szene wiederum ist beispielhaft für Weinöhls berechtigten Anspruch eines auch darstellerisch anspruchsvollen Auftretens seiner TänzerInnen; und immer wieder stellen sie dies in Mimik und vor allem auch in der derartig visualisierten, sinngebend wichtigen Gestik gut unter Beweis.
Dieses im und für den Tanz „zusätzliche“ Ausdruckmittel ist bei der komplexen wie schwierigen Thematik hilfreich. Wird doch in diesem dichten, etwa 95 Minuten dauernden Werk, nicht, wie zum Teil vielleicht erwartet, Schuberts Leben nachgezeichnet, angedeutet oder sonst eine Geschichte erzählt. Vielmehr wird versucht, sein Lebensgefühl, die Atmosphäre von Schuberts Zeit und Musik auf die Bühne zu bringen. Und dies in vollem Bewusstsein, dass es nur eine Annäherung sein kann, da es immer ein Blick aus dem Jetzt ist: So befinden wir uns auch in Teil 3 in einer Kunsthalle, in der ein Biedermeier-Zimmer (das aus dem ersten Teil) ausgestellt ist. Es wird aber auch mit dem Wissen inszeniert, dass Schubert selbst an einer künstlerischen Schwelle stand, ja, wie Mundry in „Vor der Premiere“ sagte, er „einer der ersten Modernen“ war. So ist auch eines der Leitmotive Nähe und Ferne, wird in Variationen gestisch und vor allem tänzerisch umgesetzt: Dabei wird einerseits geradlinig das (auch musikalisch sehr präsente) Thema der Wiederholung immer wieder aufgenommen - hie und da an die Grenzen des Anregenden stoßend. Andererseits wird aber auch in vielen einfallsreichen choreographischen Konstellationen diesem Phänomen nachgegangen, was vor allem im teilweise sehr dynamischen dritten Teil viel an Konzentration und Kondition von den TänzerInnen verlangt. Und sie meistern es gut, ebenso wie sie zum Teil individuelle Fähigkeiten einsetzen können. Vor allem aber sind sie herausgefordert, sich in und an der Musik und Choreographie zu orientieren, ohne im klassischen Sinne eine Rolle zu haben – von eingestreuten kurzen episodischen Darstellungen abgesehen. Und diese Kompetenzen sind es, die hier gefragt und auch gegeben sind, und die wichtiger sind als einheitliche Perfektion und Übereinstimmung im Spitzentanz. Dass dies bei der international und erst in dieser Saison neu zusammengesetzten Truppe, also bei unterschiedlicher Ausbildung und ebensolchem Können, (noch) nicht immer der Fall ist ist, tut ihrer Leistung speziell in diesem zwischen zeitgenössischem und modernen Ballett sich bewegenden Stück kaum Abbruch.
Dass es in dieser Choreographie untere Anderem ganz allgemein Weinöhls Ziel ist, Schuberts Klänge tänzerisch zu „verkörpern“, birgt allerdings an manchen Stellen die Gefahr in sich, durch die Nähe der beiden Kunstformen an Spannung, an der anzustrebenden „doppelten“ Kraft zu verlieren; der eine oder andere diesbezügliche Gegenpol, ein Herunterbrechen, täte wohl.
Faszinierend ist hingegen, dass selbst in dieser verzahnt wie schlüssigen Konzeption eine „Abweichung“ ihren wesentlichen Platz findet. So gibt es sehr wohl eine „Rolle“, ja nahezu eine „Rahmenhandlung“, verkörpert durch den „Mann im Anzug“ (engagiert und überzeugend: João Pedro de Paula) – freilich in gewisser Unklarheit seiner Bedeutung. Zögernd und rückwärtsgehend betritt er gleich zu Anfang den Bühnenraum und damit die Vergangenheit: unsicher, tastend, immer wieder. Uberrascht versucht er sich ihr zu nähern, sie zu erkunden, sich einzufügen, sie „auszuprobieren“. Nach seinem körperlichen „Abgang“ gibt es ihn wieder sichtbar im dritten Teil als Metapher des Intellektuellen, von Gedanken, des Nach-Denkens, Voraus-Schauens, Vorweg-Nehmens - vielleicht., Als „Reminiszenz“ an Vergangenes taucht tief im Hintergrund der Kunsthalle als kleine „Rolle“ vergleichbar auch kurz und mit klassischem Bewegungs-Repertoire eine Gestalt auf. Dies und noch manch anderes gibt es zu entdecken, trägt zur Vielfalt des Abends bei.
Das, was Weinöhls Choreographie ganz besonders ausmacht, ist die sich darin manifestierende vielschichtig und detailfreudig zu erlebende Feinfühligkeit. Diese vor allem trägt und berührt. Und durch den oben angeführten, detaillierten und immer begründeten Einsatz vieler Stilmittel kann das Werk nahezu als Gesamtkunstwerk bezeichnet werden. Das eine und andere mag sich dabei nicht jedem vermitteln, nicht mit gleicher Überzeugungskraft. Erfordert die Choreographie doch durchaus auch vom Publikum die Bereitschaft, sich konzentriert auf eine Konzeption des eher Ungewöhnlichen einzulassen. Man wird nicht einfach mitgerissen oder hineingezogen in eine simple Welt der Emotionen. Aber dass der Grazer Ballettchef sein Publikum trotz dieser Ansprüche sehr wohl zu erreichen versteht, dafür spricht beispielsweise deutlicher Szenen- und anhaltender Schlussapplaus.
Ballett der Grazer Oper „Und der Himmel so weit“ von Jörg Weinöhl. Uraufführung am 1. April 2016 in der Grazer Oper. Weitere Aufführungen am 6., 9., 14., 17., 20., 29. April, 1. und 13. Mai