Mit seinem Jugendprojekt „Die Leiden des jungen Faust“ hat das Theater an der Wien eine State-of-the-Art-Produktion realisiert. Diese „neue“ Faust-Oper umspannt einen musikalischen Bogen von Monteverdi bis John Adams, und setzt dem klassischen Thema Perspektiven der heutigen Jugend entgegen. Das Ergebnis: Starkes, schnelles und intelligentes Musiktheater vom Feinsten.
Alles an dieser Produktion ist hochprofessionell: die Solistinnen und Solisten und der Chor von „Jugend an der Wien“, das Bühnenbild und die wunderbare Inszenierung von Daniel Pfluger. Unter der musikalischen Leitung von Raphael Schluesselberg musiziert das Oberstufengymnasium Wien das breite Repertoire von Barock bis zu zeitgenössischen Kompositionen souverän. Mit im Orchestergraben: der Jugendchor „Neue Stimmen Wien“, der die Sänger auf der Bühne unterstützt. Das Bühnenbild stellt mit einem Riesenbücherstapel, einer überdimensionalen Schreibmaschine und Schreibtischlampe Fausts Gelehrtenstube dar (ursprünglich von Es Devlin für die Theater an der Wien-Produktion „Elegie für junge Liebende“ kreiert). Axel E. Schneider zeichnet für die einfachen, wirkungsvollen Kostüme verantwortlich.
Die Darsteller sind junge, musikbegeisterte Menschen im Alter von 14 bis 24. Gesangliche, schauspielerische und tänzerische Vorbildung ist beim Casting kein Hindernis, aber auch keine Voraussetzung für die Teilnahme (für die kleinen Solopartien gab es ein eigenes Vorsingen). Von Oktober bis zur Aufführung wurde geprobt, gelernt und gecoacht. Das Resultat: In „Die Leiden des jungen Faust“ traten die Jugendlichen auf wie gestandene Profis und überzeugten in ihren Einzelleistungen ebenso wie als Ensemble. Die Aufgabe war herausfordernd: Chor und Solopartien wurden auf deutsch, italienisch und englisch gesungen. Regisseur Daniel Pfluger hat mit den Jugendlichen einen Text entwickelt, der unterschiedliche Zugänge zu Goethes Stoff thematisiert und die einzelnen Szenen zu einer kurzweiligen Collage montiert. Die gesprochenen Texte waren komplex und ihr Esprit kam nur durch ein exaktes Timing zum Tragen. All das war bestens geprobt.
Auch in dieser Jugendversion bestimmt Mephisto das Weltgeschehen, verführt die aus dem Puppenstatus erwachten Menschen mit einem Mikrofon, in das sie nun, einer nach dem anderen, ihre Wünsche äußern können. Alle haben Wünsche, nur Johann nicht, denn er habe schon alles. Ob er denn glücklich sei, wird er gefragt. Das bringt ihn in Rage, denn nein, Sinn sehe er in dem allen keinen – und er habe ja schon Alles probiert. Was könnte das noch toppen? Der Augenblick des höchsten Genusses, wenn man sagt „Verweile doch, du bist so schön“ – flüstert ihm Mephisto zu und in Absprache mit der Gruppe verkauft er dafür seine Seele. Da werden sie alle zu Faust und ihre Wünsche erfüllen sich. Zum „Danse Macabre“ von Camille Saint-Saens können sie nun unter Wasser atmen, fliegen, über die Dächer von London spazieren.
Wie die an „Die Leiden des jungen Werther“ angelehnte Titelwahl vermuten lässt, träumen viele von der Liebe. Gretchen und Faust verlieben sich und singen „Gib mir die Hand mein Leben“ aus Mozarts „Don Giovanni“. Diese Art romantisches Geplänkel macht die feministische Einstellung von Greta (als Anti-Gretchen) mit einer Brandrede für die Selbstbestimmung zunichte, bis sie merkt, dass sie in ihrem völlig durchgeplanten Leben die Liebe als Störfaktor vergessen hat. Worauf drei Liebespaare zu Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ ihre Version davon tanzen.
Henrik wiederum ist ein Selbstdarsteller, der seit sieben Jahren täglich Videos ins Internet stellt und mit seinen tausenden Followern angibt. Er wird von den grauen Weibern, die ihm ziehen und zerren in den Wahnsinn getrieben. In einem letzten Aufbäumen fängt er den großen Moment vor Publikum noch mit einem Video ein, doch statt es zu posten, löscht er es versehentlich.
Schließlich bietet Margot (Fabiola Eröd) eine Lösung an: Nicht Faust, sondern Gretchen hat den Moment, von dem man sich wünscht, dass er andauert, gefunden … Da kommt Mephisto und holt sich Fausts Seele. Es endet wie es begann: Die Menschen werden wieder zu Puppen.
Dieses große Welttheater aus jugendlicher Perspektive berührt nicht nur die Herzen des Publikums. Mit Witz und rasantem Tempo tauchen wir ein in die Gefühlswelt einer Generation, die sich in dieser künstlerischen Auseinandersetzung ihre eigenen Gedanken über Goethes Text macht. Nach diesem Abend möchte man meinen, dass die Übertragung eines klassischen Stoffes in die heutige Zeit als Teamwork wohl am Besten funktioniert! Schade nur, dass diese Oper nach zwei Vorstellungen bereits vom Spielplan verschwindet.
"Die Leiden des jungen Faust" am 1o. Mai im Theater an der Wien