„Meine Seele hört im Sehen“ nennt Jörg Weinöhl, Ballettdirektor des Hauses seit 2015/16, seine Choreographie und erreicht tatsächlich das in diesem Titel Angesprochene: Dass das eine und andere Mal zu erahnen ist, was Weinöhl meint, wenn er von der „ungeschützt berührenden und fragilen Ebene“ zwischen Hören und Sehen spricht. Dass also ein wenig zu erleben ist, was hier mit „Seele“ zu umschreiben versucht wird, was bei einer Umsetzung von Musik in Bewegung in Schwingung versetzt und empfunden werden kann.
Wiederum, das heißt zum dritten Mal in Graz, entschied sich Weinöhl für Musik aus dem Barock; wählte 22 Vokal- und Instrumental-Beispiele, die ein weites Spektrum sowohl der Entstehungszeit wie des rhythmischen und emotionalen Ausdrucks umfassen. Die musikalische Interpretation durch Orchester und SängerInnen unter der Leitung Robin Engelens vermittelt diese Breite anschaulich, trägt mit schwungvollem Engagement durch den Abend.
Gleichermaßen griffig gelingt es in der choreographischen Umsetzung, die barocke Formensprache aufzunehmen und gattungsspezifisch bereichernd zu transformieren. So präsentieren sich stimmig etwa die der musikalischen Repetition entsprechenden Wiederholungen in Bewegungsabschnitten; so wirkt bei der temporeich vermittelten barocken Vielfalt an Lebensfreude etwa auch das tänzerische Kurz-Intermezzo in freiem Tanz nicht aufgesetzt. So macht der jeweils kluge rhythmische Wechsel in der Musikauswahl die 90-minütige, weitgehend abstrakte Szenen-Folge bis auf ganz kleine, kurze Ausnahmen überaus kurzweilig. Auch Schnitte im Ablauf und selbst Stillstand in der Musik und – besonders markant – längere Unterbrechungen im Bewegungsfluss erweisen sich verstärkend und einprägsam. Gleichzeitig begeistern zahlreiche kreativ arrangierte, fließende Übergänge zwischen noch so unterschiedlichen Musikstücken. Dieser harmonische Ablauf wird nicht unwesentlich unterstützt von einem gleichermaßen funktionellen wie zurückhaltenden Bühnenbild, das in seinem diskret unverwinkelten Charme in wohltuendem Kontrast steht zu bezaubernden, farbenprächtigen Kostümen, deren Vielfalt selbst im (etwas zu) häufigen Bekleidungs-Wechsel nicht untergeht (Ausstattung: Saskia Rettig).
Das, was Weinöhls hier so gelungene choreographische Handschrift ausmacht, ist eine facettenreiche und doch zielstrebige Geradlinigkeit in den meisten Passagen. Ein besonders gutes Beispiel für das packend Schnörkellose in der szenischen Bewegungsumsetzung ist der Schluss des Sequenzen-Reigens, wenn sich das gesamte Corps de ballet mit entwaffnender Selbstverständlichkeit vom Publikum wegwendet und abgeht. Noch andere gelungene Beispiele für Szenen in „Reih und Glied“ stechen hervor und kontrastieren anregend zur einen oder anderen netten Verspieltheit oder auch zum einen oder anderen (unnötig wiederholten) Spaß. Manch scheinbar „locker“ arrangierte, ungewöhnliche und spritzig angelegte Ensembleszene fasziniert ebenso - und lässt zwei, drei etwas belanglosere Pas de deux (ob wegen fehlender Hebe- und Sprungkraft oder Exaktheit, oder aber auch, weil es an lebendigem Ausdruck im Miteinander mangelte) vergessen.
Nicht zuletzt tragen selbstverständlich die TänzerInnen selbst zu dieser gelungenen Aufführung bei. Schon länger hat man sie nicht in so erfrischender Homogenität und Entspanntheit erlebt – zu verdanken wohl auch dem Gast-Ballettmeister Philip Balmain Beamish und der seit 2015/16 konstanten Arbeit der Ballettmeisterin Jaione Zabala; konzentriert bis in die letzte Mimikfalte agieren sie, mit immer wieder überzeugendem Temperament wie auch mit feinfühligem Gespür für Emotion. Clara Pascual Marti ist für letzteres besonders zu nennen so wie Simon Van Heddegen im Pas de deux mit ihr. Begrüßenswert ist die wohlgeführte und beherrschte Eleganz des in dieser Saison erstmals in Graz auftretenden Daniel Myers’. Barbara Flora reißt mit durch ihre strahlende Bühnenpräsenz, Astrid Julen durch ihre Leichtigkeit in der Bewegung und ihre Qualität in Hebefiguren. Als besonders ausdrucksstark in ihrer ernsten Verhaltenheit ist Marina Schmied zu erwähnen, Arthur Haas in seiner im Ensemble seit drei Jahren geschätzten ruhig-eigenwilligen Prägnanz. Und dass Pedro de Paula sein darstellerisches Potential und sein kraftvolles technisches Können in einer Frauenrolle ausspielen kann, ist amüsant wie überzeugend zugleich.
Das Publikum dankte es allen Beteiligten mit anhaltendem, mit Trampeln bekräftigtem Applaus.
Ballett der Oper Graz: „Meine Seele hört im Sehen“, Uraufführung am 13.Oktober 2017 in der Oper Graz. Weitere Vorstellungen am 21., 22. Oktober, 5. November, 4., 10., 17. und 18 Februar 2018