Über Lautsprecher werden mit distanzierter Wissenschaftlichkeit Fakten zu Gedächtnisfunktionen des Gehirns eingespielt, zu intakten und weniger intakten: Bevor im schmucklos schwarzen Raum eine Gestalt zu bewegen sich beginnt - mit gezieltem Agieren, in ansprechend ästhetischem Fluss. Bis Sand ins Getriebe kommt: auf respektive „in“ ihren Kopf und das Kernthema ‚Identitätsverlust‘ visuelle Formen annimmt.
Die Tanz-Performance „Jamais je n’oublie“ oder „Nie vergesse ich“ ist zur Zeit im Theatermërz in Graz zu sehen. Sie wurde im Oktober 2018 in Gleisdorf, im Kulturkeller uraufgeführt und wird im Sommer an mehreren Orten in Italien zu sehen sein.
Es handelt sich um eine Choreografie von Perle Cayron, geboren 1996 in Frankreich, mit abgeschlossener Tanzausbildung in Cannes und ehemaliges Mitglied des Ballet National de Marseille, das sie aber mit 21 verließ, um anderes, Neues zu erkunden: in den Niederlanden, in Leipzig und schließlich in Berlin bei Helder Seabra, wo sie ihr Interesse für choreographische Arbeit entdeckte und hiermit, in der Region von Graz, wo sie ein künstlerisches Standbein zu haben versucht, erstmals verwirklichte. Gemeinsam mit der aus Italien gebürtigen Maria Cargnelli, die sie schon in ihrem ersten Ausbildungsjahr kennenlernte und mit der sie in vielen Aufführungen des Ballet National de Marseille auftrat - bereits als 18 bzw. 19 jährige Profitänzerinnen.
Für das derzeit lediglich 30minütige Stück ist eine gut 50minütige Version für einen Schauspieler-Tänzer und zwei TänzerInnen in Planung, Dies ist gut vorstellbar und erfreulich, wenngleich aber auch schon die vorliegende kurze Version von durchgängiger Kraft und auch von Nachhaltigkeit ist.
Dies beruht auf dem fundierten, dem zeitgenössischen Bewegungsrepertoire entnommenen Können der beiden Tänzerinnen. Ihre Bewegungssprache ist sowohl in solistischen Passagen wie auch in gemeinsamen von ruhig geführter Selbstverständlichkeit. Mit viel Präsenz nehmen sie von Beginn an die Zuseher mit in ihre Welt und lassen diese keinen Augenblick mehr los – geerdet, wie ihr Tun sich vollzieht. Zentriert und gleichzeitig mit behutsamer Achtsamkeit für den anderen (die zahlreichen gemeinsamen Tanzjahre dürften hier nachwirken) übertreten sie nie den ihnen ureigenen Raum. Es sind vor allem runde, weitgehend geschlossene Bewegungen in Kreisen und Schleifen; weit entfernt also von spektakulärer Expressivität, aber getragen von einem Fließen in Senkungen und Hebungen im nahezu intimen Miteinander. So vor allem können die beiden jungen Künstlerinnen auch tatsächlich mit einem Thema, das vor allem Ältere betrifft, überzeugen.
Das Thema habe sich für sie ganz natürlich ergeben, erzählt Cayron, da Gedächtnis und Erinnerung – im Persönlichen wie Kollektivem – sie schon immer als fundamentales menschliches Phänomen interessierten. So versuchte sie sich bei ihren Recherchen schließlich von der Seite deren Abwesenheit zu nähern, setzte sich mit Alzheimer auseinander. In ihrer Choreografie bedient sie sich keiner klassischen Chronologie, wenngleich anhand des Lebensweges, der Metaphern artig als Papierplane entrollt und letztlich eingerollt wird, markante Stationen angedeutet werden. Tatsächlich sind es aber verschwommene, ineinandergreifende Erinnerungssplitter, an denen die Betroffene, durch schmale Fensterspalten blickend, kurze Teilnahme gewährt. Sich selbst vor allem - in wehmütiger, ja schmerzender Erinnerung, wie es die interpretierende Maria Cargnelli ganz vortrefflich und mit erstaunlicher Empathie, sowohl im körperlich sich ausdrückenden wie emotional spürbaren Bereich, wiederzugeben vermag. In einzelnen Szenen so, als holte sie das nun körperlich Geformte tatsächlich aus ihren Erinnerungstiefen: ver-formt und verbeult zumeist, abgenützt und lückenhaft – und doch auch von verblasster Schönheit noch durchdrungen an die, an unsere intellektuelle Oberfläche.
Nicht minder intensiv entwickeln sich die Szenen unterschiedlichen Miteinanders: Solche von notwendig helfender, unterstützender, liebevoll zugewandter Natur, aber auch solche von ungeduldiger, hilfloser, aufbäumend sich abwendender, aggressiver und verzweifelter.
Erwartungsvolles Harren der Langform!
Perle Cayron: „Jamais je n’oublie“ (Uraufführung am 9. Oktober 2018 im Kulturkeller, Gleisdorf) Gastaufführung im THEATERmërz, Steinfeldgasse 20; 8. Februar 2019, Weitere Aufführungen: 14., 15., 16. Februar