Bereits zum vierten Mal lud der in Polen geborene und in Wien lebende Tänzer und Choreograf Hygin Delimat ins Brick-5 zu einem Abend seiner Reihe „Craft Choreography“, mit der er österreichische und internationale Produktionen zeitgenössischen Tanzes, oft, aber nicht immer, als „work in progress“ präsentiert; dieses Mal mit fünf Choreografien.
Mirjam Sadjak / Mira Gregorič: “Evolving Creatures”
Senf-gelb, wie sie im anschließenden lockeren Artist Talk augenzwinkernd betonten, seien ihre Kostüme. Nicht gelb. Bestmöglich mit- und ineinander verschränkt, verknäuelt, hocken sie zu Beginn auf der Bühne, der Looper legt eine instabile Klangfläche aus, sie lösen sich sehr langsam, trennen sich voneinander. Die Eine geht zur Soundtechnik, klopft, zupft, streicht eine Geige geloopt und verzerrt, die andere bleibt zwischen kantig und flüssig, skulptural und konvulsivisch tanzend zurück. Die Tänzerin Mirjam Sadjak, der gemeinsam mit Anna Hein die künstlerische Leitung des CCB (Center for Choreography Bleiburg/Pliberk) obliegt, und die Geigerin Mira Gregorič entwickelten in dieser harmonisch-dissonanten Studie Tanz und Musik parallel, um gegenseitige Abhängigkeiten und Einflussnahmen zu erforschen. Und am Ende umfasst sie den Raum vor sich mit ihren Armen ...
Antonio Buonaiuto: The curious case of Benjamin Button
Rückwärts durch ein (Tänzer-) Leben. Wie der Titel des Stückes bereits andeutet, ließ sich der in Neapel beheimatete und in Rom ausgebildete italienische Tänzer Antonio Buonaiuto für sein Solo von jenem Film inspirieren, der das Leben eines alt geborenen und als Baby sterbenden Menschen zeigt. Unter einem weißen Tuch liegend beginnt und beendet Buonaiuto seine Reise, die ihn durch Stationen eines Lebens führt, die er rückwärts im Kreise gehend miteinander verbindet, sich dabei schrittweise entkleidend. Die physischen Manifestationen der Reifegrade und der jeweiligen Entwicklungsstufen dieses Charakters choreografiert Antonio Buonaiuto auf beeindruckende Weise in seinem Tanz, der von der Vielseitigkeit (klassisch, urban und zeitgenössisch), der körperlichen Flexibilität und der Ausdruckskraft des Tänzers lebt. Mit kurz vor dem Ende dieser runden, erstaunlich reifen Arbeit eingespieltem Text spricht er auch von Bestimmungen, die ein Leben prägen können: „... und manche Menschen müssen tanzen!“
Joni Österlund: Hintergedanke
In Finnland und Ungarn in klassischem Ballett ausgebildet, lebt Joni Österlund seit August 2019 in Wien. Der Tänzer, Choreograf und Lehrer taucht in seinen Arbeiten in die Psyche des Menschen ein. Bei Raw Matters Nr. 78 zeigte er gemeinsam mit dem Musiker Christoph Puntzmann ein Solo zur Balance von Bewusstem und Unbewusstem, hier eine Choreografie für zwei Frauen zu einem ähnlichen Thema. Die beiden Tänzerinnen Sara De Santis (in weiß-grau) und Hannah Maria Wimmer (in schwarz) tanzen synchrone und solistische Parts zum elektronischen Sound von Christoph Puntzmann und von Pia Nives Welser eingesprochen Textpassagen aus Jean Paul Sartres „Der Ekel“. Mehrdeutig zeigen sie die Begegnung und Konfrontation des Bekannten mit dem Unbekannten innen und außen, das Ringen der bewussten mit den unbewussten Persönlichkeitsanteilen, das Durchbrechen der letzteren und schließlich die Vereinigung beider, deren „friedliche Koexistenz“. Mit „Hintergedanke“ startet Joni Österlund den Prozess der Entwicklung eines letztlich von fünf TänzerInnen performten Stückes, auf das dieser hier gezeigte Entwurf sehr neugierig macht.
Roni Rotem: Welcome to Virtual Humans
Aus Berlin reisten die israelische, Tänzerin und Choreografin Roni Rotem und ihre, ebenfalls Wahl-BerlinerInnen, TänzerInnen Janan Laubscher (USA), Tamae Yoneda (Japan) und Gabriel Lawton (Australien) an. In „Welcome to Virtual Humans“ bewegen sich drei seelenlose, computergesteuerte Wesen mechanisch zu rhythmischem Elektronik-Sound, der der einführenden Roboterstimme folgt. Doch sie mutieren zu menschlichen Wesen, denen Leben in die Körper fließt. Drei Persönlichkeiten werden sichtbar. Sich dem Rückfall in entseelte Wesenheiten heftig widersetzend, verliert Tamae Yoneda am Ende doch diesen Kampf um individuelle Selbstbehauptung gegen die beiden anderen.
Höchste Präzision in ihren synchronen und asynchronen Elementen, Virtuosität und Breitbasigkeit des eingesetzten Bewegungsmaterials, vom Mechanisch-Posthumanen zum Zeitgenössischen, und das tänzerische Niveau machen diese längste Arbeit des Abends zu dessen künstlerischem Höhepunkt. Aus diesem hochkarätigen Trio sticht Tamae Yoneda mit der Explosivität und der ungeheuren Expressivität ihres Tanzes noch besonders heraus.
Caroline Beach: Sticky Solo
Eine Frau auf der Suche nach sich selbst. Mit ihrem nur viertelstündigen „Sticky Solo“ zeigt die in Dresden lebende gebürtige Texanerin Caroline Beach die komplexeste Arbeit des Abends. Die Tänzerin, Choreografin und Musikerin war bis 2017 acht Jahre lang Mitglied des Semperoper Ballett, wo sie unter anderem in Werken von William Forsythe, Ohad Naharin und Alexander Ekman tanzte. In viel Text in texanischem Englisch spricht sie von den Gedanken eines Matrosen, ihres alter ego, öffnet sich den Blicken des Publikums, streicht ihren Körper mit konfetti-durchsetztem Schleim ein. Ihre Reise von der mit dem Pullover sich selbst Verhüllenden über die eine bunte, gefällige Schein-Identität Lebende hin zu einer, die unter Künstlern und Künsten ihren Platz sucht, ist ein mit viel Ironie und Sarkasmus tief sitzende Zweifel und Ängste überdeckender tänzerisch-performativer Aus- und Aufbruch ins Ungewisse. Auch diesen Namen sollte man sich merken.
Fazit
Die große Zahl an interessierten TänzerInnen und ChoreografInnen (circa 80 Antragsteller) einerseits und das immense Interesse tanz-begeisterter ZuschauerInnen andererseits zeigen, dass Hygin Delimat mit seiner Initiative der monatlich veranstalteten Reihe „Craft Choreography“ offene Türen einläuft. Er will den Tanz fördern. Nicht gegen, aber in deutlicher Abgrenzung zur vergleichsweise umfänglich präsentierten und geförderten Performance-Kunst. Und weil der zeitgenössische Tanz deutlich unterrepräsentiert ist in der freien Szene Wiens. Was, neben der programmatischen Gewichtung der Theater, nicht zuletzt erklärbar wird durch mangelnde oder gänzlich fehlende finanzielle Unterstützung. Die künstlerische Qualität der hier (gagenfrei!) gezeigten Arbeiten und die Resonanz des Publikums bestätigen die Intention des Initiators.
„Craft Choreography #4“, am 16. Jänner 2020 im Brick-5 Wien. Weitere Termine: 6. Februar, 12. März, 16. April, 14. Mai, 10. Juni