Dem Tänzer und Choreograf Jean Weidt (geb. Hans Weidt, 1904-1988) gelang in obsessivem Kampf gegen existenzielle und intellektuelle Hindernisse ein umfangreiches, technisch von der Tanzpantomime und künstlerisch von Surrealismus und Psychoanalyse geprägtes Lebenswerk. Als linker Idealist besaß er ein enormes Durchhaltevermögen humanitärer Ausrichtung. Dennoch ist er heute - vor allem auch was die künstlerische Seite seiner Arbeit angeht - ein fast Vergessener, der im Oktober in Hamburg gewürdigt wird.
Der Weg des aus prekärem Milieu in Hamburg St. Pauli stammenden Tänzers führte über Berlin ins Exil nach Moskau, Prag und Paris in mehrjährige Gefangenschaft in Algerien und in den Kriegsdienst, wo er an der Seite der Engländer gegen den Hitlerfaschismus kämpfte. Seine letzten mehr als vierzig Lebensjahre verbrachte er in der DDR, die ihm 1945, als er dorthin ging, weil in Paris das klassische Ballett ihm den Rang streitig machte, noch als das bessere Deutschland erschien.
Den künstlerischen Höhepunkt erreichte Weidt 1947 beim Concours International de la Danse mit dem Tanzstück „Die Zelle“. In der mit dem 1. Preis ausgezeichneten Choreografie, geprägt von surrealen Reflexionen über einen psychisch zerstörten Kriegsveteranen geht es um eine dramatische Fortsetzung von Bert Brechts Komödie „Trommeln in der Nacht“ (UA 1922) und die Entwicklung der darin verborgenen Tragödie. In dieser Choreografie kombinierte er dramaturgisch geschickt Maskentanz, Pantomime, Klassisches Ballett und Ausdruckstanz. (Den 1. Preis beim ersten Concours 1932 gewann Kurt Jooss mit „Der grüne Tisch“.)
Seine auch von filmischen Mitteln wie flashbacks geprägte Ästhetik wurde ihm jedoch auf seinem weiteren Weg - in der DDR - zum Verhängnis, da dort der Surrealismus als „formalistisch“ abqualifiziert und Erkenntnisse der Psychoanalyse verhöhnt oder mit Tabu belegt wurden und dazu führte, dass man ihn mehrere Jahre „strafversetzte“. Weidt selbst erwähnte diesen Konflikt in seiner 1968 in der DDR erschienen Biografie und dem 1984 gegebenen Interview, (das Marion Reinisch im gleichen Jahr für die Publikation „Auf der großen Straße“ zusammenfasste), mit keinem Wort, sondern fügte sich vordergründig dem Idiom und der Ideologie seines Gastlandes, was wiederum im Westen zur einseitigen Rezeption Weidts als „Roter Tänzer“ geführt hat.
Den Vornamen Jean, den er um 1934 in Paris angenommen hatte, weil er sich mit seinem Exilland und den dort lebenden Freunden – die kein H aussprechen konnten - so sehr identifizierte, behielt er sein Leben lang bei, denn den Künstlernamen konnte man ihm selbst in der DDR nicht zum Vorwurf machen.
Im letzten Lebensabschnitt setzte er sich in Ostberlin mit seiner Gruppe junger Tänzer im Rahmen der Operninszenierungen von Walter Felsenstein und der Choreografien von Tom Schilling für eine einzigartige Verbindung von Laien- und Bühnentanz und den Austausch mit dem Westen ein.
Weidt wurde oft übersehen, da er selten in gängige Wahrnehmungsschablonen der Tanzwelt passte. Seine Freunde waren Freidenker aus Literatur und bildender Kunst. Sie verfassten ihm Libretti, portraitierten ihn und seinen Tanz, schufen Masken und machten ihm Mut.
Zwei Zufallsfunde führten auf seine Spur: Die Entdeckung der Mappe „La Cellule“ mit Libretto der preisgekrönten Choreografie und den Ablauf der „Zelle“ in Momentaufnahmen darstellenden Zeichnungen von Jean Target sowie der Fund einer Materialsammlung aus dem Nachlass des Exilforschers Hansjörg Schneider, der Weidts Prager Zeit für seine Habilitation in Interviews und Zeitungsartikeln dokumentiert hatte – kurz bevor er verstarb.
Auf der Basis dieser und vieler weiter Funde werden die Ausstellung „Weidt tanzt“, die Neuinszenierung von „Die Zelle“ sowie Filme von und mit Jean Weidt in der Lola Rogge Schule in Hamburg präsentiert.
„Weidt tanzt! – Ausstellung über das Leben Jean Weidts“, Kuratierung und Realisation: Lauritz Lipp mit Studenten der Berliner Technischen Kunsthochschule/Campus Altona von 20. bis 28. Oktober 2016„Die Zelle“, Neuinszenierung der Choreografie Weidts, Konzept und Regie: Nele Lipp, Choreografie: Christiane Meyer-Rogge Turner und Monika WellerPremiere: Do. 20. Okt. 2016 um 19h, Weitere Aufführungen: Fr. 21. / Sa. 22. Okt. je um 18h und 20h, So. 23. / Mi. 26. / Do. 27. / Fr. 28. Okt. um 19hAusstellung + Aufführung gehören zusammen und werden in Kombination präsentiert in der Lola Rogge Schule Filmabend mit „L’ Apprenti sorcier“ (Der Zauberlehrling, Max Reichmann/Jean Cocteau. Es tanzt: Jean Weidt, Paris 1933) und „Gesicht eines Tänzers – Jean Weidt“ (Lothar Grossmann mit: Eberhard Rebling, Harald Wandtke, Walter Felsenstein, Ursula Wendorff-Weidt u. a., 1974) am 24, Oktober 19h im Metropolis Kino