In ihrer Bachelorarbeit „Zeitgenössischer Tanzunterricht als kunstpädagogischer Beitrag zur psychomotorischen Entwicklung blinder und hochgradig sehbeeinträchtigter Kinder von 6 bis 10 Jahre“ fragt Lena Pirklhuber welche Rolle Bewegung in der psychomotorischen Entwicklung blinder und hochgradig sehbeeinträchtigter Kinder spielt. Welche spezifischen methodischen Faktoren muss die Tanzpädagogin beim Unterricht diese Zielgruppe beachten? Und welche inhaltlichen Aspekte aus dem Feld der Psychomotorik können diese tanzpädagogischen Arbeit unterstützen?
Lena Pirklhubers Interesse für dieses Thema entwickelte sich durch ein Tanz-Rhythmik-Projekt an einer Schule für sehbehinderte Kinder (Zinckgasse, 1150 Wien) sowie durch Hospitationen des Tanzunterrichts am Bundes-Blindenerziehungsinstituts Wien.
Die Bachelorarbeit beginnt mit einer kurzen Reflexion über den Stellenwert des Visuellen und die Einstellung gegenüber Blindheit in unserer Gesellschaft. Gängige Vorurteile und Vorstellungen, wie die Welt von blinden Menschen sei dunkel und mangelhaft, werden dabei kritisch hinterfragt und die subjektive Konstruktion von Realität betont. Gerade im Umgang mit blinden oder sehbeeinträchtigten Menschen ist es notwendig, die eigene Wirklichkeit nicht als die einzig richtige zu erachten. Zu den Grundannahmen einer zeitgemäßen Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, von denen die Autorin ausgeht, gehört zudem das oberste Ziel, Selbstständigkeit zu ermöglichen und Selbstbestimmung zu akzeptieren.
Dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung wird daraufhin ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Tatsache, dass Bewegung die Basis für jegliche Wahrnehmungsfähigkeit darstellt, erachtet Pirklhuber als wesentliche Schlüsselinformation im Unterricht mit sehgeschädigten Kindern, da nicht primär die Sehbeeinträchtigung an sich, sondern ein Mangel an Bewegungserfahrungen und ein daraus resultierender Mangel an Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten die gesamte Entwicklung hemmen kann. Die Analyse der einzelnen Sinnesbereiche, die beim Tanzen zum Einsatz kommen, verdeutlichen, dass gerade blinde und hochgradig sehbeeinträchtigte Kinder stark davon profitieren können. Denn das Zusammenspiel von taktil-kinästhetischer, vestibulärer, auditiver und räumlicher Wahrnehmung ermöglicht eine ganzheitliche Bewegungs- und Ausdruckserfahrung und ist auch ohne oder nur mit geringem Sehvermögen möglich.
Bei der Untersuchung der psychomotorischen Entwicklung blinder und hochgradig sehbeeinträchtigter Kinder kommt die Autorin zu dem Schluss, dass diesbezüglich keine Pauschalaussagen getroffen werden können und sollten, sondern dass eine Vielzahl von endogenen und exogenen Faktoren den Verlauf der Entwicklung beeinflussen. Ist das Kind von Geburt an blind? Wie genau ist der Grad der Sehbeeinträchtigung? In welchem sozialen Umfeld wächst das Kind auf, wird es auf motorischer Ebene gefördert? Fakt ist, dass blinde und hochgradig sehbeeinträchtigte Kinder durch negative Erfahrungen oder Verletzungen vermehrt Bewegungshemmungen entwickeln und oftmals Fehlhaltungen, muskuläre Dysbalancen und ein auffälliges Gangbild aufweisen.
Die Psychomotorik als ganzheitliches Unterrichtskonzept zur Förderung des Kindes auf motorischer wie emotional-sozialer Ebene wird im darauffolgenden Kapitel vorgestellt, und dient als Basislegung für die im Hauptkapitel behandelte konkrete Umsetzung eines zeitgenössischen Tanzunterrichts mit sehgeschädigten Kindern. Die Gemeinsamkeiten der Psychomotorik mit zeitgenössischem Kindertanzunterricht finden sich an den Schnittstellen Selbsterfahrung, Sozialerfahrung und Materialerfahrung wieder und dienen als Ausgangspunkt zur konkreten Ausarbeitung methodischer Hilfestellungen in der Bewegungsvermittlung von Improvisation und Tanztechnik.
Die gleichzeitige mentale Vorstellung des Umraums sowie der auszuführenden Bewegung stellen blinde Kinder vor eine große Herausforderung beim Bewegungslernen und erfordern bei der Tanzpädagogin/dem Tanzpädagogen ein Umdenken in Art und Weise der Vermittlung. Dazu gehören der vermehrte und genaue Einsatz von Stimme und Sprache, taktile Hilfestellungen und die Gestaltung des Tanzraums in einen sicheren und möglichst verletzungsfreien Ort. Die verbale Vermittlung dient unter anderem zur Bewegungsbeschreibung, Bewegungskorrektur, Beschreibung des Bewegungsraumes und Motivation. Dabei sollten immer wieder auch die Kinder selbst dazu ermutigt werden, einfache Bewegungsabläufe in Worte zu fassen, um für sich selbst und die anderen Kinder vorstellungsmäßig das Bild zu schärfen und die Bewegung durch das sprachliche Erfassen auch besser abspeichern zu können. Taktile Momente sind im Tanzunterricht mit blinden Kindern ein essentieller Weg um in Kontakt miteinander zu treten und bestimmte Bewegungen direkt über den Körper erfahrbar zu machen.
Die Autorin unterstreicht darüber hinaus die Wichtigkeit von Improvisationen im Tanzunterricht mit Kindern mit Sehschädigung, denn das alleinige Nachahmen von bestimmten Übungen und Choreografien kann schnell zu Frustrationen führen, vor allem wenn die sprachlichen Anweisungen für die Kinder nicht verständlich sind oder sie ständig an Armen und Beinen geführt werden. Improvisationsaufgaben schaffen hingegen individuelle Handlungsräume und fördern unterschiedliche Lösungsansätze. Das Aufbrechen von Bewegungsstereotypen und die Erweiterung der individuellen Bewegungsmöglichkeiten stellen dabei ein wichtiges Ziel dar.
In körperbildnerischer Hinsicht ist es erstrebenswert, mit blinden Kindern an einem differenzierteren Gebrauch der eigenen Körperspannung zu arbeiten und vor allem die Wirbelsäule als flexible und vielseitig bewegliche Stütze des Körpers spürbar zu machen.
Blinde und sehbeeinträchtigte Kinder können in einem zeitgenössischen Tanzunterricht ohne die Angst, etwas Bestimmten entsprechen zu müssen, ihre Stärken entdecken und neue Bewegungsmöglichkeiten entfalten. Statt einer Be-Handlung tritt das eigenständige Handeln in den Vordergrund. Dies sollte an oberster Stelle eines jeden Tanzpädagogen/einer jeden Tanzpädagogin im Unterricht mit dieser Zielgruppe stehen.
Lena Rosa-Marie Pirklhuber, BA
Absolvierte 2016 den Studiengang Zeitgenössische Tanzpädagogik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Während ihrer Ausbildungszeit stand sie unter anderem im Dschungel Wien im Stück „war game“ auf der Bühne, wirkte beim Projekt „living room“ des Choreografen Willi Dorner mit und war Preisträgerin beim 14. Fidelio-Wettbewerb (Porgy & Bess, 2015). Neben ihrer eigenen künstlerischen Arbeit liebt Pirklhuber es zu unterrichten und ist derzeit als Tanzpädagogin an der Volksschule der Stiftung Theresianische Akademie Wien angestellt, als Vertretung in der Tanzwerkstatt Wien aktiv und gibt Einzelunterricht für ein Mädchen mit Autismus.
Über ihre Bachelor-Arbeit ist Pirklhuber auf das Projekt „Lillis Ballroom“ gestoßen, dessen Ziel es ist, eine Tanzschule für Menschen mit und ohne Sehbeeinträchtigung/Blindheit in Wien zu eröffnen, und arbeitet nun bei der Forschung und Umsetzung dieses Vorhabens mit.
Seit Herbst 2016 studiert sie Psychologie an der Universität Wien und möchte zukünftig auch tanztherapeutisch arbeiten.