Selbstdarstellung kann verschiedenste Formen annehmen. Sie mag sich in Architektur äußern, die, aneinandergereiht, einen ganzen Straßenzug – etwa den der heuer ihren 150. Geburtstag feiernden Ringstraße – bildet. Sie kann sich ebenda aber auch in Formen von Umzügen manifestieren, in denen sich – sei es der „Makart-Festzug“ 1879, der „Kaiser-Huldigungs-Jubiläums-Festzug 1908“, die seit 1996 alljährlich stattfindende „Regenbogenparade“ oder Rudolf von Labans getanzter „Festzug der Gewerbe“ 1929 – Teile der Gesellschaft selbst präsentieren.
Jede Selbstdarstellung, sei es nun die einer Person, einer gesellschaftlichen Gruppe oder eben der Architektur, wird eine ort- und zeitgemäße Form finden, sich in Szene zu setzen, der theatralische Aspekt wird dabei immer eine wesentliche Rolle spielen. Die Ringstraße etwa wird schon durch ihre inszenierte Architektur zur Bühne. Die breit angelegte Straße kann darüber hinaus auch zum Aufführungsort werden, denn nicht nur ihre Bewohner wünschen sich selbst darzustellen, sondern auch andere, die sich dann bevorzugt in Umzügen organisieren. Somit besitzt der Ring die ganz besondere Eigenheit eines doppelten Schauraums und befriedigt damit ein Grundbedürfnis des Menschen – das Schauen – gleich in mehrfacher Hinsicht: In der Allee Spalier stehend auf einen festlichen Zug blickend, entsteht der eine Schauraum, herumgewendet, die Prachtbauten betrachtend, sieht man den anderen. Aber nicht nur die Straße selbst, auch die Gehwege können zur Bühne werden. Damals nämlich, als man im Korso der „Ringstraßenzeit“ innerhalb eines bestimmten Straßenabschnitts – zwischen Sirk-Ecke und Schwarzenbergplatz – mit dem einzigen Grund flanierte, andere (des gleichen Standes) zu sehen und von ihnen gesehen zu werden. Vielleicht weil Standesunterschiede heute weitgehend aufgehoben sind, wird das einstige Sehen und Gesehenwerden vom Ritual des „Roten Teppichs“ abgelöst, bei dem sich heutige Zelebritäten zur Schau stellen. Dabei dient ein Gebäude – die Oper, das Rathaus, ein Ringstraßenhotel – als Auftrittsort, wobei die Bedeutung der Architektur und der Institution den Glamour des Auftritts zusätzlich hebt.
Weder die huldvollen Worte des Kaisers, in denen er seinen Willen kundtat, die Stadt der Zeit gemäß zu gestalten, noch die nachmals gewachsenen Nuancen des Präsentierens und Schauens sollten darüber hinwegtäuschen, dass der Ring als Ort des militärischen Aufmarschs geplant war. Die winkeligen Straßen der Inneren Stadt nämlich hatten sich 1848 als Kampfraum wenig günstig erwiesen. Nun, am Ring, war Platz für mannigfaches Marschieren, eine Tätigkeit, die die Schaulust des Publikums in besonderem Maße zu befriedigen scheint. (In der Hofoper etwa gab man „Aufmarschballette“, in denen in knappen Uniformen gekleidete weibliche Abordnungen zum Gaudium des anwesenden Militärs nichts anderes taten als zu marschieren.) Das Marschieren bzw. Paradieren nahm, bei gleichbleibendem Raum, andere Formen an, war vom körperlichen Duktus und je nach politischer Situation zackig oder wie auf den fahrenden Paraden weich und rund. An Provokation fehlte es beiden nicht.
Laban als Festgestalter
Dass jener Innovator des Tanzes – Rudolf von Laban (Bratislava/Preßburg 1879–Weybridge 1958) –, der vor allem am Raum interessiert war, den Ring auch als performance venue sah, liegt nahe. Als das Wiener Gewerbe am 9. Juni 1929 im Rahmen der Wiener Festwochen in einem Großereignis sich festlich darzustellen suchte, wünschte man sich den damals in Deutschland wirkenden Laban als „Festgestalter“ eines solchen Zugs. Dieser zog dann eine damals führende Kunst – den Tanz – als allumfassendes Inszenierungsmittel heran.
Im Jahr seines 50. Geburtstags feierte man Laban dank seiner auratischen Ausstrahlung sowie seiner vielseitigen Interessen als zentrale Gestalt des Modernen Tanzes. Sich selbst als Teil der Lebensreform betrachtend, war er von der Eigenständigkeit der Kunstgattung Tanz überzeugt. Er wandte sich einem (Tanz-)Raum zu, den er mit körperlicher Bewegung, mit Zeit und Kraft in Bezug stellte. Den neuen Tanz sah er in eigens dafür entworfenen Architekturen, aber auch in freien, offenen Räumen, etwa auf dem Monte Verità. Nach zahlreichen völlig divergierenden Initiativen (Schul- und Ensemblegründungen, Bildung von Bewegungschören, dazu eine bedeutende tanzschriftstellerische Tätigkeit) fand die Karriere des „Vielfähigen“ nun ihren Höhepunkt. Ende 1929 äußerte Mary Wigman sinngemäß, dass alle Vertreter des Modernen Tanzes einen Teil Labans in sich trügen.
Labans Körperkonzepte und Festkulturformen fanden durch die enorme Zahl der „Laban-Schulen“ weite Verbreitung. Sein besonderes Interesse galt einem „Laientanz“, bei dem die Erfahrung des gemeinsamen „chorischen“ Erlebens, „höhere Zustände des Seins“ hervorrufen sollten. Das Ergebnis von Labans Suche nach einer Schrift, die Tanz jenseits der Aufführung verfügbar machen sollte, war die „Kinetographie Laban“, die später im anglo-amerikanischen Raum den Namen „Labanotation“ erhielt. Diese Schrift wurde erstmals 1928 in Wien in der Universal Edition gedruckt. Nach der Aberkennung aller Ämter durch die Nationalsozialisten verließ Laban 1937 Deutschland und wirkte ab 1938 in England. Weltweite Anerkennung erhielt er schließlich durch das nach ihm benannte „Laban Centre“, einer zentralen Londoner Tanzausbildungsstätte. (2005 ging daraus durch den Zusammenschluss mit dem Trinity Music College das "Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance" hervor.) Ab den Achtzigerjahren wandte man sich auch im deutschen Raum wieder Laban zu, sein Gedankengut hat sich auch einen Platz in zeitgenössischen Tanzkonzepten wie etwa dem von William Forsythe erobert.
Die tanzende Ringstraße
Die Konzeption des „Tanzenden Festzugs“ war der Zeit gemäß überaus anspruchsvoll, bewusst lehnte Laban sich dabei an die „Trionfi“, die Umzüge der Renaissance an, die als Ursprünge des europäischen Bühnentanzes gesehen werden. Nicht starre „aufgeputzte Menschen und Wagen als Schaustücke“ sollten gezeigt werden, sondern „Bewegungsausdruck und Rhythmus“. Verstanden als „eine Verquickung künstlerischer Reklamebestrebungen mit Festkultur“, bei der die „Qualität und Schönheit der Wiener Arbeit“ im Mittelpunkt stehen sollte, wurde, wie Laban-Assistent Fritz Klingenbeck dies formuliert, für den Zug ein eigenes Bewegungskonzept ausgearbeitet. Zwischen und auf den Wagen tanzend, die jeweils ein Gewerbe repräsentierten – Laban nennt sie „fahrende Bühnen“ –, sollten Arbeitsrhythmen aus dem jeweiligen Gewerbe aufgenommen und der Bewegungsakzent auf dem Großstadtleben liegen.
Für den „Festzug der Gewerbe“ – den Ehrenschutz hatte Bundespräsident Wilhelm Miklas inne – gab es einige Verantwortliche: Klingenbeck als Assistent für die Gesamtgestaltung, Gisa Geert und Gertrud Kraus für die Einstudierung der Tänze, Edith Bell für die choreographische Aufmarschordnung, Ilse Halberstam und Cilli Ambor für die Vorbereitung der Laiengruppen, Vilma Abramovicz für den Auftritt einer Kindergruppe sowie Alfred Schlee für die Musik. Die Musikauswahl des späteren Leiters der Universal Edition war dementsprechend: von fünf Lautsprecherwagen erklangen Kompositionen von Egon Wellesz (er hatte eigens einen Festlichen Marsch geschrieben), Julius Bittner, Bruno Granichstaedten, Ernst Krenek und Max Brand.
Als eine der Hauptstädte der Bewegung des Modernen Tanzes vereinigte Wien in diesem Großereignis, von dem Filmdokumente existieren, fast die gesamte moderne Tänzerschaft der Stadt. Zu modernen Tanzgruppen kamen eigens für den Festzug geschaffene Laienensembles, insgesamt wurden 3.000 Tänzerinnen und Tänzer aufgeboten. An mit Tribünen versehenen Halteplätzen waren die verschiedensten Tanzformen zu sehen: von historischen Vorbildern abgeleitete Zunfttänze, überlieferte Gesellschafts- und Volkstänze, Reigen, Charakter-, Schau- und Typentänze, Genre-, Grotesk- und Girltänze sowie Kindertänze. Ausführende waren neben Geert und Kraus und ihren Tanzgruppen u. a. die Gruppen von Grete Wiesenthal, Ellinor Tordis, Olga Suschitzky, Ilka Zezulak, Käthe Hye, Edith Eysler sowie – um einige der im Programm genannten Solisten zu erwähnen – Erika Hanka und Fritz Kaiserfeld, Stella Mann, Trude Godwyn, Herta Ruth Brod, Pepitta Höllriegl, Toni Gerhold, Maru Kosjera, Vilma Degischer, Ruth Suschitzky, Steffi Preisinger. (Nebenbei bemerkt: Die Tanzgruppe Kratina der Schule Hellerau-Laxenburg zeigte am 9. Juni ihren eigenen Festwochen-Beitrag in Laxenburg, die Tanzgruppe Bodenwieser befand sich auf Gastspielreise in England.)
Erwartungsgemäß war der Widerhall des „Tanzfestzugs“ in der Wiener Bevölkerung enorm. Der Zug, der laut Zeitungsberichten insgesamt 7.000 Mitwirkende umfasste (60 Gewerbegruppen, 138 Festwagen, 38 Musikkapellen) und sich über sieben Kilometer vom Freiheitsplatz (Platz um die Votivkirche) über den Ring, die Praterstraße und die Hauptallee bis zur Rotunde bewegte, lockte rund 400.000 Menschen an (und wurde überdies von Radio Wien übertragen). Trotz einiger Kritik, kann wohl auch für Labans Veranstaltung die Einschätzung Joseph Gregors gelten. Er sieht den Festzug als eine „kulturgeschichtliche Erscheinung, in dem sich die Bedeutung von Gruppen, Ständen, Berufen, ja ganzen Völkerschaften kollektivistisch über sich selbst erhöht“. Der Festzug ist, so Gregor, „das Theater einer ganzen Stadt“.
Der Ring gibt auch weiterhin einem solchen Theater Raum. Auch für ein „Betanzen“ der Fassaden und Dächer wie es von den postmodern dancers praktiziert wurde, böten die Prachtbauten des Rings ein reiches Betätigungsfeld.