Das Wiener Adelsprädikat für gefeierte Darsteller – der Artikel „der“ oder „die“ vor dem Nachnamen – verlieh die Stadt Ismael Ivo schon bald. „Der Ivo“ gehörte sehr rasch nicht nur der heimischen Künstlerschaft, sondern auch dem öffentlichen Leben an. Die folgende Frage allerdings, nach welcher Zeitspanne ein Ausländer zum „Wiener“ mutiert – im konkreten Fall zu einem „Wiener Brasilianer“ – ist nicht so leicht zu beantworten. Ein Dritteljahrhundert braucht es dafür gewiss nicht!
Ohne Zweifel ist Ismael Ivo einer jener Künstler, die, wie es im Programm-Editorial in Bezug auf das Performance-Angebot von ImPulsTanz 2016 formuliert ist, „Räume und Zeiten“ verbinden. Insbesondere die Zeit scheint dem Tänzer hold zu sein, denn zwischen dem ersten Wiener Bühnenerscheinen Ivos und dem für 6. August 2016 im Volkstheater angekündigten, von ihm selbst und dem Cellisten Dimos Goudaroulis ausgeführten Auftritt „Discordable – Bach“ liegen immerhin 33 Jahre! Auftritte wie Aktivitäten in diesen Jahren sind Teil der Wiener Tanzgeschichte geworden. In einem rückblickend verwirrend scheinenden Dickicht von Labels, Auftrittsorten und Formationen taucht Ivo immer wieder mit dem ihm eigenen Charisma auf. Das erste Mal tanzend war dies am 18. August 1983 in den Sofiensälen, diesem Auftritt war zwei Tage vorher eine Lecture Demonstration von „Brazilian Dance“ auf der Schmelz vorausgegangen. Der Rahmen war „Tanzkultur Wien ´83 – Thirdworld Tanz intensive“ gewesen, ein Unterrichts- und Veranstaltungsprogramm, das im Universitätssportzentrum Schmelz abgehalten wurde. Die nächsten Schritte in der Beziehungsgeschichte Ivos zu Wien sind wohlbekannt. Im Januar 1984 trat er mit seiner Performance „Ritual of a Body in Moon“ bei Nuschin Vossoughi im Metropol auf, im März desselben Jahres präsentierte er mit „Creatures of the Night“ seine erste Wiener Uraufführung. Schauplatz war der nunmehr schon legendäre Raum des Serapionstheaters am Wallensteinplatz. Ivo brachte, wie Hausherr Erwin Piplits sich erinnert, wochenlang vollbesetzte Häuser. Schnell wurde er zu einer Wiener „Konstante“, seine Anziehungskraft war schon 1985 dermaßen, dass er selbst die Stadthalle füllen konnte. Vor allem aber gründete Ivo 1984 – mit Karl Regensburger als Partner und organisierende Kraft – die „Internationalen Tanzwochen Wien“, eine Workshop-Einrichtung, die vier Jahre später um ein Performance-Programm erweitert wurde und sich alsbald als „ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival“ eine im Kulturleben der Stadt herausragende Position eroberte. (In diesem Zusammenhang sei klar gestellt, dass das Wiener Publikum seit 1969 bis Ende der Neunzigerjahre durch Festivalgestaltungen von Gerhard Brunner über weit mehr als „nur“ aktuelle Trends der internationalen Tanzszene umfassend informiert wurde. Die von Brunner – neben seiner Tätigkeit als Direktor des Balletts der Wiener Staatsoper – 1982 ins Leben gerufene und kuratierte TANZ-Biennale wies ein außerordentlich breites Angebot auf. Es reichte von Gastspielen großer klassischer Kompanien, über thematische Schwerpunkte wie „Indischer Tanz“ bis zu Einblicken in die amerikanische Postmodern Dance-Szene, dazu kam programmatisch die Aufarbeitung der Wiener Ausdruckstanzvergangenheit.)
Doch es gab – und damit verband Ismael Ivo immer wieder kulturelle Räume miteinander – auch andere Städte, die für ihn zu Stützpunkten wurden: Berlin, zeitweilig auch Stuttgart und Weimar, dazu Venedig. Die Berufung als Gastprofessor an das Max-Reinhardt-Seminar der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2013 ist als Echo auf den Bekanntheitsgrad Ivos zu sehen. Sein im selben Jahr gestartetes Ausbildungsprojekt „Biblioteca do Corpo®“ in Wien und São Paulo (als Showing ist heuer bei ImPulsTanz „Black/Out“ am 13. August im Arsenal zu sehen) gibt Anlass, einen intensiveren Blick auf die Körperbildung des Tänzers Ivo zu werfen. Dies umso mehr, als man schon bei den ersten Wiener Auftritten des Südamerikaners Bewegungscharakteristika zu sehen glaubte, die auf mitteleuropäische Wurzeln, genauer auf den Ausdruckstanz zu verweisen schienen.
„Estética expressionista …“
Und in der Tat: Geht man nämlich, und damit wird die im ImPulsTanz-Editorial angesprochene Thematik der „kolonialen und Migrationsgeschichte“ aufgegriffen, jener Pädagogin – Ruth Rachou – nach, bei der ein Tanzstudium Ivos vermerkt wird, taucht aus der brasilianischen Millionenstadt São Paulo, in der Ivo 1955 geboren wurde, eine Ausbildungsstätte auf, die als veritables „Ausdrucksstudio“ gesehen werden kann. Der anfänglichen Überraschung folgt die Kenntnis auf dem Fuß, dass nach Südamerika insbesondere in den Dreißigerjahren ja viele vertriebene Künstler und damit auch verfemte Tänzerinnen und Tänzer geflüchtet sind. (Von den aus Österreich Geflohenen seien nur die folgenden genannt, sie alle fanden – manche nur vorübergehend – Zuflucht in Lateinamerika: Nach Argentinien gingen Elsie Altmann, Margarete Wallmann, Isolde Klietmann, Otto Werberg, Erni Wünsch; nach Kolumbien Gertrud Bodenwieser, Hanni Kolm, Magda Brunner; nach Venezuela ging Steffi Stahl; nach Kuba Fritz Berger.)
Wer aber ist Ruth Rachou? Die Deutschstämmige, 1927 in São Paulo (als Ruth Margarida da Silva) geboren, war schon früh mit Vertreterinnen des Ausdruckstanzes in Kontakt gekommen. Zu einer prägenden Figur für Ruth Rachou war Chinita Ullmann geworden, die, als sie sich 1932 in São Paulo niederließ, eine bedeutende Karriere in Deutschland vorzuweisen hatte. Chinita (eigentlich Frieda) Ullmann (1904 Porto Alegre – 1977 São Paulo), Tochter einer Brasilianerin und eines Deutschen, wird als Pionierin des Modernen Tanzes in Brasilien angesehen. In den Zwanzigerjahren war sie nach Deutschland gegangen, hatte eine Tanzausbildung bei Mary Wigman (1886 Hannover – 1973 Berlin) in Dresden absolviert und war von 1925 bis 1927 Mitglied der Tanzgruppe Mary Wigman gewesen. Danach gab sie eigene Tanzabende (auch mit Partner Carletto Thieben) in Europa sowie in Nord- und Südamerika, die ihr die Anerkennung von Kritikern wie etwa Artur Michel eintrugen, und leitete eine Wigman-Schule in Köln. Schriftstellerisch setzte sie sich in der Zeitschrift „Die Tanz-Gemeinschaft“ mit Themen wie „Männer- und Frauentanz“ (über den Unterschied von männlichem und weiblichem Ausdruck im Tanz) oder „Unbekannte Tänze Süd-Amerikas“ auseinander. Nach einem 1931 erfolgten Tanzabend in Rio de Janeiro gründete sie 1932 in São Paulo gemeinsam mit ihrer noch in Deutschland ausgebildeten Schülerin Kitty Bodenheim (1912 Köln – 2003 São Paulo) die „Academia de Bailado“, in der auch Bewegungsprinzipien von Rudolf von Laban vermittelt wurden.
Geprägt von Chinita Ullmann, Kitty Bodenheim und deren mitteleuropäischem Lehrgut, dazu ausgebildet in klassischem Tanz, war Ruth Rachou Mitte der Fünfzigerjahre in São Paulo Mitglied des „Ballet do IV Centenário“, das unter der Leitung von Aurel von Milloss stand. (Milloss war später sechs Jahre lang Ballettdirektor an der Wiener Staatsoper.) Nach zusätzlichem Studium von amerikanischen Modern Dance-Techniken in New York, etablierte Rachou mit dem „Estúdio Ruth Rachou“ eine eigene Schule in São Paulo. Es war diese Ausbildungsstätte, die Ivo von 1976 bis 1979 besuchte. Schon 1978 schuf Ivo seine erste eigene Choreografie, 1983/1984 war er Stipendiat und Mitglied der Workshop Company am Alvin Ailey American Dance Center.
Jedes Tanzkunstwerk „hat seine Zeit …“
Das Wissen um den schulischen Hintergrund Ivos bestätigt nicht nur den einmal gewonnen Eindruck, sein Körper präsentiere auch Schattierungen des Ausdruckstanzes, es erklärt auch den hohen Grad der Harmonie in seiner Zusammenarbeit mit Rosalia Chladek (1905 Brünn – 1995 Wien). Gemeinsam arbeitete man an der Wiener Staatsoper – es war dies 1990 gewesen – an einer Wiederbelebung von Chladeks Solo „Narcissus“, das die große österreichische Vertreterin des Ausdruckstanzes 1936 kreiert hatte. Für Chladek war diese Arbeit von eminenter Bedeutung, hatte sie doch seit ihrem Abschied von der Bühne eine „Weitergabe“ der eigenen Kunst als einen Akt der „Entäußerung“ der eigenen Persönlichkeit empfunden. Chladek wusste sich damit in Übereinstimmung mit allen Vertretern und Vertreterinnen ihres Genres. Sich selbst als „Schöpfer-Interpretin“ einschätzend, gehörte es zu ihrem Credo, dass Kreation und deren Darbietung in ein und derselben Person zu liegen hätten. Wie sie das – nach einem Sinneswandel – seit Beginn der Achtzigerjahre mit Solo-Choreographien schon einige Male getan hatte, „übertrug“ sie, wie sie es nannte, nun also wieder – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht, denn sie übertrug nicht nur ein Solo von sich auf eine andere Person, sondern auch auf das andere Geschlecht. War sie einst als Frau der schillernden Figur des Narcissus nachgegangen, interpretierte nun der schillernde Ivo die Gestalt der griechischen Mythologie. Der Motivik sowie dem Geschlechtertausch mochte Ivos Körper besonders entgegen gekommen sein, ähnelt er doch in seiner langgliedrigen Schlankheit und dem Ebenmaß der Proportionen jenem der Chladek. Und was Mary Wigman von der, wie wir jetzt wissen, via Ullmann und Rachou eine direkte „Erb-Linie“ zu Ivo führt, einst in Hinblick auf Chladek formulierte, mag auch für den brasilianischen Tänzer gelten: „Das Tanzkunstwerk“, schrieb die große deutsche Tänzerin, „hat seine Zeit, nicht anders als der Tänzer selber der Zeitspanne verhaftet ist, die es ihm gestattet, sich seines Körpers als Instrument des Tanzes souverän zu bedienen. Das ist das tänzerische Schicksal. Wir alle haben es erfahren und anerkennen müssen. Und doch geschieht nichts umsonst. Alles Erlebte und aus dem Erlebten Gestaltete erhält und erfüllt seinen Sinn. Es lebt und wirkt weiter, unter der Haut, unter der Oberfläche gewissermaßen, andere Menschen anregend und befruchtend. Auch Rosalia Chladek darf sich der Ernte ihres tänzerischen Schaffens freuen.“
Rosalia Chladeks Arbeit mit Ivo war aber nicht ihre einzige Verbindung zu ImPulsTanz. Von 1987 bis 1995 war sie alljährlich Dozentin bei den Internationalen Tanzwochen gewesen, nach ihrem Tod leiteten Ingrid Giel (2000) und Joanna Philippopoulou (2005) Workshops. 1987 trat Chladek bei den Wintertanzwochen mit einem Ausschnitt aus ihrer „Afro-amerikanischen Lyrik“ zum letzten Mal als Tänzerin in Erscheinung (es war dies 60 Jahre nach ihrem Wiener Solo-Debüt!). 2005 veranstaltete ImPulsTanz anlässlich der 100. Wiederkehr ihres Geburtstags eine „Hommage à Rosalia Chladek“ im Akademietheater mit Rekonstruktionen von Sologestaltungen aus den Jahren 1923 bis 1951. Und Ismael Ivo hielt im selben Jahr an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Turin einen Vortrag über Chladeks künstlerische Arbeit, begleitet von einem „Narcissus“-Workshop. – Das Chladek®-System, das insbesondere seiner stringenten Körperprinzipien wegen zu einer wichtigen modernen Tanztechnik geworden ist und als solche 2015 als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO-Kommission anerkannt wurde, wieder in das Workshop-Angebot von ImPulsTanz aufzunehmen, bedürfte eigentlich keines äußeren Anlasses.
Alldem und dem Motto der Veranstaltungsreihe von ImPulsTanz 2016 folgend, ist man versucht, sich das kommende Dritteljahrhundert sowie die Einschätzung all jener Tanzschaffenden zu imaginieren, die heute richtunggebend sind. Was etwa geschieht mit dem Werk von Anne Teresa De Keersmaeker, der es immerhin gelang, einen völlig neuen Tänzerinnentyp zu kreieren? Wird es für sie schließlich auch Diskussionen um „Übertragungen“ geben? Wird sich so etwas wie ein Keersmaeker-Repertoire herausbilden? Was geschieht mit Werken wie jenen von Xavier Le Roy? Welche Körpertechniken, Werkkonzeptionen, welche Ästhetiken werden aktuell sein?
In der Bewegung der ständigen Fortentwicklung wird es jedoch weiterhin Konstanten geben. Zum einen Ismael Ivo, der längst zu einer „Wiener Legende“ geworden ist, zum anderen das leitende Duo Karl Regensburger / Ismael Ivo. Regensburger weiterhin trotz unaufdringlicher Zurückhaltung konsequent Ziele verfolgend, Ivo in ebensolcher Zurückhaltung weise lächelnd, weiß er doch zu genau, dass es allein seiner spektakulären Erscheinung wegen keines weiteren Aufwands bedarf, um im Mittelpunkt zu stehen.