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holger bombayDie diesjährige Ausstellung „Body Luggage“ beim Steirischen Herbst beschäftigt sich mit grenzüberschreitender Migration von kulturellen Zeichen, oftmals das einzige Gepäck ist, das wir über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg mit uns tragen können. In der von Zasha Colah kuratierten Show ist auch die Arbeit von Hilde Holger (1905-2001) ausführlich dokumentiert. Das folgende Interview mit Hilde Holger zum 90. Geburtstag der Tänzerin, Choreografin und Pädagogin stammt aus dem tanzAffiche-Archiv.

„Wer zu mir kommt, wird berühmt“*

Ihr Arbeitszimmer ist voll persönlicher Reminiszenzen, Gemälden, Skulpturen, Büchern, Fotos; Zeugen, eines im wahrsten Sinn des Wortes bewegten Lebens. Im Gespräch ist Hilde Holger warmherzig und großzügig, vermittelt eine positive Energie und Einstellung zum Leben und ihrer Arbeit, die sie als Pädagogin trotz schwerer Arthritis noch immer ausübt. „Die Kraft des Tanzes“ war in ihrem wechselhaften Schicksal überlebenswichtig und Hilde Holgers persönliche Kraft ist bis heute ungebrochen, von Überzeugung geprägt, von Eitelkeiten verschont.holger portrait

„Wer zu mir kommt, wird berühmt“, sagt sie mit verschmitztem Lächeln, auf ihre Schüler angesprochen. Einige von ihnen hat sie entdeckt, wie Lindsey Kemp, der sonst nirgendwo aufgenommen wurde. Nur Hilde Holger erkannte sein Talent, und tatsächlich hat der eigenwillige Performer mit seiner Arbeit international Karriere gemacht. Wolfgang Stange meint ebenfalls, dass er es „ohne die Hilde“ nie geschafft hätte. Denn von seiner Tanzausbildung an der London Contemporary School war er eher entmutigt. Heute ist seine Pionierarbeit durch die Compagnie „Amici“ mit behinderten und nichtbehinderten Darstellerinnen ein Aushängeschild der englischen Tanzszene. Mit Liz Aggiss, die mit ihren Rekonstruktionen Hilde Holgers Tänze auch wieder nach Wien brachte, zählt eine weitere Schülerin zur Avantgarde des britischen Tanzes.

holger 2maskenEine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten kamen aus der Hilde Holger Dance School, zum Beispiel Royston Maldoom, eine führende Kraft in der Community Dance Bewegung; Litz Pisk, die besonders durch ihre Arbeit mit Schauspielerinnen und ihr Buch „Movement for Actors“ bekannt ist; Carl Campell, Direktor der „Company for Seven“ oder Franca Schuller, die ebenfalls Tänze von Hilde Holger rekonstruiert und getanzt hat. „Sie haben alle ein Gefühl für meine Arbeit“, meint sie über die Interpretationen der Studentinnen.

Begabung ist laut Hilde Holger nicht unbedingt sofort sichtbar. Manchmal dauert es Monate, bis man das Potential eines Schülers entdeckt, und das weiß sie aus eigener Erfahrung. Als sie nämlich ihre Ausbildung bei Gertrud Bodenwieser begann, meinte diese nach dem ersten Jahr, es wäre doch besser, wenn sich Hilde einen zweiten Beruf zulegen würde, aber nach dem zweiten Jahr der Ausbildung war auch die Lehrerin überzeugt, dass Tänzerin der einzige Beruf für sie war. „Es war mir unerhört schwer, mich bei Bodenwieser einzufügen“, meint sie heute. „Es hat Iange gedauert, bis ich ihre Art aufgenommen habe, aber nicht meine Art dabei unterdrückt habe.“holger bodenwieser

Diese Balance zwischen Wissensvermittlung und eigenständiger Kreativität fördert Hilde Holger in ihrem Unterricht. Nicht umsonst zählen die extravagantesten TänzerInnen Englands zu ihren Schülerlnnen.

Ihre Tanzschülerlnnen will sie an die Wurzeln des modernen Tanzes führen, die für Hilde Holger eindeutig in Europa liegen. ln England jedoch ist das Bewusstsein vom Amerikanischen Modern Dance geprägt und dieses Bild will sie korrigieren. „Ich bin eine unerhört dankbare Schülerin von der Bodenwieser gewesen, die ein Genie in ihrer Art war. Ich bin natürlich von ihr beeinflusst, bin aber wieder ganz andere Wege gegangen. Bodenwieser war manchesmal sehr stilisiert und ich gehe mehr der natürlichen Bewegung nach.“

holger EngelAuch choreographisch machte sie sich bald selbständig, noch während ihrer Zeit als Tänzerin bei der Bodenwieser-Gruppe begann sie Soloabende ihrer eigenen Werke zu geben. Eines ihrer ersten Ballette war übrigens „Die Forelle“, die vor kurzem von Liz Aggiss wieder zur Aufführung gelangte.

ln der Zeit des nationalsozialistischen Regimes versteckte sie sich vorerst in Wien, bevor sie 1939 ein Visum nach Indien erhielt. ln Bombay als westliche Tänzerin Fuß zu fassen, war natürlich nicht einfach, denn „die westliche und östliche Kultur waren völlig unterschiedlich“. Um ihre eigenen Tänzerinnen heranzubilden, gründete Hilde Holger eine Schule, die zuerst aber nur von Männern besucht wurde. Hilde Holger wunderte sich: „Die haben gedacht, es sei ein Bordell. Sie wollten nicht glauben, dass es eine Tanzschule ist.“ Erst als ihr Freunde rieten, „For Ladies Only“ auf das Schild zu schreiben, blieben die Männer weg.holger java

Doch auch in Indien wurde Hilde Holger von den politischen Realitäten überrollt. Die jüdische Tänzerin, die während der Nazi-Diktatur ihre Familie verloren hatte, sah sich nun dem Glaubenskrieg zwischen Hindus und Moslems gegenüber. Eine Rückkehr nach Wien gab es für sie nicht mehr: „Ich wollte nie wieder nach Wien zurückgehen. Ich hatte noch zu traurige Erinnerungen und habe mich dort nie mehr wieder ganz wohlgefühlt. Denn wenn man das Furchtbare mitgemacht hat, das ich mitgemacht habe, und gesehen hat, wie Menschen im Nebenhaus herausgerissen werden und einfach verschwinden, gibt es kein Zurück mehr.“ Mit ihrem Mann, einem parsischen Arzt, und ihrer Tochter Primavera emigrierte sie 1948 nach London, um dort zum dritten Mal ein neues Leben zu beginnen.

holger 1maskeIhre Eindrücke aus Indien verarbeitete sie erst in England choreographisch. „ln Indien hätte ich mir nie angemaßt, mich in den indischen Tanz hineinzumischen. Aber im Westen, da habe ich aus meinen Erlebnissen dort eigene Tänze gemacht. Einmal war ich in einem Tempel bei Mount Abuda – da war die ganze Plattform voll weißer Marmorfiguren – alles Tänzerinnen. Da bin ich stundenlang auf dem Rücken gelegen um sie zu bestaunen. Ich habe sie genau studiert und später im Westen einen Tanz gemacht, den ich ‚Apsaras’ nannte – den Tanz der göttlichen Kurtisanen.“

Für die Tänzerin und Choreographin Hilde Holger waren Kunst und Natur die Inspirationsquellen: „Es interessiert mich alles, was in der Natur vorkommt, und vieles habe ich von der Natur gelernt, von Fischen, von Katzen, von Vögeln.“holger akt

Die Pädagogin Hilde Holger lässt sich hingegen von ihren Schülerinnen inspirieren: „Wenn das Schülermaterial mich interessiert, dann gebe ich gute, schöpferische Stunden. Wenn ich aber sehe, die Schüler sind untalentiert, sind es schreckliche Stunden.“

Wie offen sie den Begriff „Talent“ auslegt, belegt auch ihre Arbeit mit Behinderten, die sie mit ihrem Sohn Darius begonnen hat: „Man riet mir, Darius in ein Heim zu geben, doch ich behielt ihn zu Hause. Er ist ein liebenswürdiger Junge mit grossem Sinn für Humor, Musik und Tanz. Er zeigte mir den Weg, Behinderte mit in die Tanzarbeit einzubeziehen, und er eröffnete mir neue Möglichkeiten, wie Musik und Bewegung behinderte Jungen und Mädchen erreichen und beeinflussen können. Damals vertrat man noch die Ansicht, dass man mit Behinderten nichts machen kann, und die Heime waren nur Aufbewahrungsorte. Über einen fortschrittlichen deutschen Lehrer, John Menzhausen, in dessen Club Darius tagsüber mit anderen Behinderten war, habe ich mit der Arbeit mit Behinderten-Gruppen begonnen.

holger familySpricht man mit ihren Studentinnen, spürt man auch, dass Hilde Holger mit ihnen eine Beziehung aufgebaut hat, die über das Lehrer-Schüler Verhältnis weit hinausgeht. Immer wieder ist sie Angelpunkt für künstlerische Ideen. Liz Aggiss arbeitet gerade an einem Film über sie, bei der heurigen Herbstproduktion von Wolfgang Stange soll sie die Hauptrolle übernehmen. Ihre Schülerlnnen, die über den ganzen Erdball verstreut sind, kommen immer wieder zu ihr. „Die Schüler sind irgendwie meine Freunde. Wenn sie nicht meine Freunde sind, sind sie nicht meine Schüler. Und nach Jahren kommen sie zurück und das freut mich immer unerhört.“

* Edith Wolf Perez: „Wer zu mir kommt wird berühmt. Hilde Holger feiert am 18. Oktober ihren 90. Geburtstag“ in tanz.Affiche Nr. 56, 8. Jahrhgang, April/Mai 1995, S. 23-24 (leicht überarbeitete Fassung). 
Fotos: Courtesy Privatarchiv Gunhild Oberzaucher-Schüller und Alfred Oberzaucher.
Die Ausstellung „Body Luggage. Migration von Gesten“ ist von 24. September 2016 bis 8. Jänner 2017 im Kunsthaus Graz zu sehen.
Mehr Informationen über Hilde Holger gibt es auf der Website http://hildeholger.com
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