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02 Tresterer webIm Februar schloss eine Ausstellung des Volkskundemuseums Wien, die sich durch vielerlei auszeichnete. Abgesehen davon, dass sie sich einem an sich überaus interessanten Thema des Volkstanzes – dem „Salzburger Tresterer“ – widmete, gelang der Kuratorin Ulrike Kammerhofer-Aggermann insofern Besonderes, als sie mögliche Kontrahenten – etwa den zeitgenössischen Performance-Künstler Thomas Hörl – schon in das Ausstellungskonzept als Dialogpartner einbezog. Zudem war man bemüht, Standpunkte Andersdenkender aus den eigenen Reihen festzuhalten.

Schon mit dem gewählten Titel „‚Matthiasʽ tanzt. Salzburger Tresterer on stage“ ging die Kooperation zwischen dem Volkskundemuseum Wien, dem Salzburger Landesinstitut für Volkskunde und dem Verein zur Förderung des Salzburger Landesinstitutes für Volkskunde einen Weg, der so manche Aufregung ausgelöst haben könnte. Mit diesem Titel nämlich hob die Ausstellung den Volkstanz programmatisch auf die Bühne, ein Platz, der – der Meinung vieler nach – ganz und gar nicht der seine ist. 03 Tresterer web

Gerade dieser Aspekt aber sowie der bereits erwähnte Dialog zwischen den verschiedenen Rezeptionslinien von tatsächlich beziehungsweise vermeintlich Tradiertem einerseits und zeitgenössischer Kunst andererseits laden – aus dem Blickwinkel des Bühnentanzes gesehen – zu „Afterimages“ ein. Diese „Nachbilder“ lassen den Salzburger Perchtenlauf mit seiner „Sonderform“ des Tresterers als „Tanztheater“ oder „Tanzperformanz“, in jedem Fall aber als „Körpertheater“ sehen. Solcherart eingeschätzt, rückt der Tresterer aber in völlig andere Bewegungs- und Gedankenwelten, die wiederum mit jeweils eigenen Traditionen sowie Literatur versehen sind.

04 Tresterer webNicht nur die (halb-)theatralische Form des Perchtenumzugs – seine Anlage und Abfolge, dazu die zur Groteske neigenden Agierenden – lässt ihn an die Seite jener Umzüge des Frühbarocks rücken, die allgemein als Ursprung des heutigen Bühnentanzes angesehen werden. Die beiden heute als vollkommen unterschiedlich wahrgenommenen Genres haben aber noch viel mehr miteinander gemein: die stationenhafte Form, Anlage und Abfolge, dazu auch eine ganze Reihe anderer Charakteristika. Die Auftretenden – ausschließlich Männer – sind Masken, die in der jeweiligen Aufführungsregion, dem gesellschaftlichen Stand der Veranstalter und/oder in einem bestimmten Jahreszeitenfest verankert sind; sie tanzen in ähnlichen Kostümen ein ganz ähnliches Schrittrepertoire, das wiederum im Gesellschaftstanz der Zeit verankert ist. Und hier wie dort gibt es eine lustige Person, die, je nach Ambiente, in eleganter oder deftiger Weise als Spielmacher fungiert. Diese Ähnlichkeiten – die keinesfalls unverwechselbar regionale Ausprägungen ausschließen – schlagen mehr als eine verwandtschaftliche Beziehung vor.Tresterer web

Um die These zu belegen, dass eine der Wurzeln insbesondere des Tresterers (auch) in den genannten Umzügen zu finden ist, sei eine Quelle herangezogen, durch die diese Nähe überprüft werden kann. Diese ist die 1716 in Nürnberg erschienene „Neue und curieuse theatralische Tantz-Schul“ von Gregorio Lambranzi, das heißt also eine gerade 300 Jahre alt gewordene italienisch/deutsche Quelle. Zur Besprechung dieser Publikation soll auf die in der Ausstellung zu sehen gewesenen zeitgenössischen Reflexionen von Thomas Hörl eingegangen werden, aber auch auf die Körperreaktion auf Volkstanz des in der Freien Tanzszene agierenden Simon Mayer.

06 Tresterer webWas ist städtisch, was ländlich? Und: Wer sind diese Masken?

Auf den Handelswegen über Salzburger Pässe wurden offenbar nicht nur Materialien, sondern auch Kulturgüter getragen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die Träger dieser Güter zuweilen längere Zeit in der Region verweilten und allerlei hinterließen, wozu edle Stoffe ebenso gehören konnten wie Tanzschritte. Ob der venezianische Tanzmeister Lambranzi auf seinem Weg in den Norden tatsächlich Salzburger Pässe überschritt, ist unsicher. Sicher hingegen ist, dass sein Buch als ein auf den Raum Oberitalien, Salzburg und Bayern bezogenes Musterbuch zu werten ist. Es kann als Resumee dessen gelesen werden, was als Schritt-, Tanz- und Szenen-Reservoir aller Tanzgenres der Zeit und dieses Raums vorhanden war. Die „Tantz-Schul“ erhält ihre Einmaligkeit daher, dass es sich dabei nicht, wie der Titel dies vermuten ließe, um ein textbetontes (Bühnen-)Tanztraktat oder um ein Gesellschaftstanzlehrbuch handelt, sondern um einen kommentierten Bilderkatalog, der die Theater-Personnage in den zeitgenössischen theatralischen Kontext stellt. Der „Lambranzi“ ist im Spannungsfeld zwischen den Wandertruppen, dem wachsenden bürgerlichen sowie dem adeligen Theater entstanden. Das Buch hält verschiedene nationale Ausprägungen ebenso fest wie Unterschiede zwischen Ständen oder Zünften. Der festgehaltene Pool kann als Summe des Präsentiertheaters um 1700 angesehen werden. Dazu gehören durchaus auch Volkstanzbräuche.07 Tresterer web

Der offensichtlich durch die Lande wandernde Tänzer und Choreograf Lambranzi führt insgesamt 101 von Johann Georg Puschner gestochene und dem Nürnberger Johann Jacob Wolrab verlegte Blätter vor. Jedes Blatt zeigt, jeweils in ein passendes theatralisches Ambiente gestellt, Darsteller in einem bestimmten Tanz oder einer bestimmten Szene. Dazu werden an der oberen Seite die dazugehörige Musik, an der Blattunterseite in einem Medaillon Schritte und Szenen erklärt. Unter den Figuren, die festgehalten werden, sind: Masken, meist grotesken Charakters, Unterhaltungskünstler und Figuren des komischen Theaters wie Hanswurst, aber auch andere Narren, Zauberer, Zigeuner, Teufelsbanner, Taschenspieler, Jongleure, Schwarzkünstler. Dazu kommen das Reservoir der Commedia dell’arte-Figuren und Angehörige anderer Nationen. Bauern werden den Grotesken zugeordnet. An Ständen und Berufen werden gezeigt: Schiffer, Jäger, Böttcher, Gärtner, Soldaten, aber auch Bildhauer. Des Weiteren sind vertreten: Türken, Mohren, Sklaven, Hexen sowie allegorische Figuren wie Satyrn. Das Augenmerk der bildlichen Darstellung liegt auf der körperlichen Kunst der Personen sowie auf den aufwendigen Kostümen.

08 Tresterer webWer tanzt hier welche Schritte?

Das Wissen um das im „Lambranzi“ ausgebreitete Material lässt nun einen neuen Blick auf den Tresterer werfen und regt dazu an, den im Buch für die Zeit um 1700 festgehaltenen Tanzstil, seine Ästhetik und sein Schrittmaterial, mit dem in jenem Film Gezeigten zu vergleichen, der in der Ausstellung „‚Matthiasʽ tanzt. Salzburger Tresterer on stage“ zu sehen war. Der 1939 im Auftrag des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften in Wien entstandene Dokumentarfilm von Herbert Lager und Ilka Peter verzichtet dankenswerterweise – und ganz gegen die Usancen der Zeit – darauf, den Tanz ideologisch auszulegen. (Dies tut die 1940 in Wien erschienene Schrift „Perchtentanz im Pinzgau“ von Lager und Peter ausführlich.) Stattdessen zeigt der Film mit Matthias Eder als Protagonisten (von ihm leitete sich der Titel der Ausstellung ab) nüchtern das Schrittmaterial des Tresterers wie es auf den ehemaligen „Vorpercht“ aus Uttendorf überkommen war.09 Tresterer qweb

An Hand des Films und mit dem „Lambranzi“-Wissen ist Folgendes festzustellen: Der Tresterer hat ohne Zweifel „noblen“ Charakter, er hebt sich nicht nur durch das Äußere der Tänzer, sondern auch durch seinen Bewegungsduktus von den anderen Teilen des Perchtenlaufs ab. Während sich die „schiachen“ Perchten geduckt mit gewinkelten Gliedmaßen bewegen, tanzen die „schönen“ Tresterer mit völlig aufrechtem Oberkörper, was den Präsentiercharakter ihres Tanzes unterstreicht. Das Anderssein – nobel, fremd, vielleicht beides? –, das Sich-zeigen-Wollen wird auch dadurch betont, dass die lustige Person, die als Vorläufer fungiert, einen eigenen Tanzplatz freimacht. Für sie – die „Anderen“ – soll, hervorgehoben durch eine eigene Station im Umzug, ein besonderer Platz geschaffen werden. Das Noble ihrer Herkunft wird nicht nur durch den Schnitt, sondern auch durch das edle Material betont, aus dem die Kostüme gefertigt sind. Der an einen Hahnenkamm erinnernde aufwendige Kopfputz aus Federn, die das Gesicht bedecken, wirkt (auch) wie die ländliche Variante des reichen Kopfschmucks nobler Personen der Zeit. Da der Tresterer durch eine eigene Beinarbeit rhythmisch selbst begleitet wird, muss den Schuhen besonderes Augenmerk beigemessen werden. Der Zusammenklang, der zwischen den arbeitenden Füßen und ihrem Schlagen, Schleifen oder Stampfen und dem Boden entsteht, ist wesentlicher Teil des Tanzes. Dass die Beschaffenheit der Sohlen der ganz und gar nicht bäuerlich wirkenden Schuhe und des Bodens dabei eine besondere Rolle spielt, ist von anderen Volkstänzen her bekannt.

10 Tresterer webDer Grundton des Tanzes ist lebhaft und vielgestaltig. Nach einem kurzen Entrée, in dem sich die Tänzer in einer Runde laufend noch einmal ihres Tanzplatzes versichern, beginnt der Tanz. Eine bestimmte Abfolge der offenbar in sich geschlossenen Einheiten oder Bewegungssequenzen scheint nicht wirklich festgelegt zu sein, einzelne Teile können wahrscheinlich auch improvisierend ineinander geschoben werden. Das Schrittmaterial, das die Tänzer (in einer beliebigen Zahl) und einander zugewandt aber nicht miteinander kommunizierend ausführen, ist beinahe virtuos zu nennen: es besteht aus „kleiner“ Beinarbeit (um Ballettterminologie zu verwenden), wird entweder am Platz oder nach links gerichtet ausgeführt. Die kleinen Schritte können von raschen Fußwechseln, größeren Sprüngen mit aufgezogenen Knien sowie Rückwärtswerfen der Unterschenkel abgelöst werden. Ein Rhythmuswechsel entsteht durch Sprünge in die Höhe und dem folgenden Landen auf dem Knie. Die Arme sind unbeteiligt oder werden sparsam für Schläge auf den Körper eingesetzt.11 Tresterer web

Fragt man sich nun, woher dieses Schrittmaterial stammt, so können die im Film angegebenen Benennungen der Schritte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses nicht aus dem Pinzgau mythischer Zeit stammt. Beim „kurzen-, langen- und Doppelhacker“, dem „Schleichen“, „Hobeln“, „Hobeln mit Zuaschlag“ und „Schürfen“ handelt es sich um allgemeines und überregionales Schrittmaterial der Zeit. Dies wird durch Lambranzi belegt. Er listet – freilich in französischer Ballettterminologie – alle jene Schritte auf, die auch von den Tresterern getanzt werden: coupé, entrechat, royal, ballonné, capriola, auch contretemps („mit Ziehung der Knie und Füße“). Dazu kommen Branle- und Rigaudon-Schritte.

12 Tresterer web„Gestellt“ oder „nicht gestellt“, bleibt das eine vorrangige Frage?

Der Grund, warum der Akzent der bisherigen Ausführungen allein auf der Betrachtung des Schrittmaterials des Tresterers lag, sein (regionaler und geistiger) Umraum ebenso ausgespart blieb wie seine vielschichtigen Rezeptionslinien, liegt in der Tatsache, dass die Bühnentanzgeschichtsschreibung das jeweils angewandte Schrittmaterial als wesentlichsten Teil eines „Werks“ ansieht. Aus seinem Umraum herausgenommen, kann besagtes Material als jene überregionale und überzeitliche Konstante gesehen werden, die eine Besprechung jenseits von Interpretationen ermöglicht, ein Ansatz, der anderen Überlegungen einen weniger dringlichen Platz zuweist. Etwa Fragen nach „Traditionslinien“ oder „Prägungen“, wie sie die Sommerakademie 2017 des Österreichischen Volksliedwerks stellt. Ganz allgemein gesehen, könnte also eine intensive und vergleichende Beschäftigung mit dem Tanzmaterial ein erstes Anliegen im Umgang mit dem Erbe sein. Mit dieser Aspektverschiebung hätten dann Fragen nach „Kontinuitäten“ oder „Brüchen“, nach „intendierter Wirksamkeit“, nach beeinflussenden Institutionen, Vereinen und Gemeinschaften, nach städtischen Träumen vom ländlichen Leben, nach Auswüchsen der Tourismusbranche vielleicht weniger brisanten Stellenwert und könnten in der Folge anders diskutiert werden. Auch die Frage nach „gestellten“ beziehungsweise „nicht gestellten“ fotografischen Dokumenten wäre wohl nicht mehr vorrangig.13 Tresterer web

Genau diese Meinung vertritt zum Beispiel Simon Mayer, wenn er sich in seiner Arbeit dem Volkstanz zuwendet. Dabei geht er einen sehr konsequenten Schritt: Sein Wille, sich allein mit Material auseinanderzusetzen – als ausgebildeter Tänzer hat er die körperliche Eignung dazu – geht so weit, dass er die Ummantelungen, die den hiesigen Volkstanz schwer umhüllen im wahrsten Sinne des Wortes abstreift und völlig ohne Kleidung auftritt. Anders wiederum Thomas Hörl, dessen Arbeit in der Ausstellung zu sehen war. Seine „bühnenartigen Installationen“ transferieren, wie es hieß, den Tresterer in „neue soziale, zeitliche und kulturelle Orte“. Einen solchen Weg zu gehen, muss das Anliegen aller Tanzgenres sein.

PS

Hinzugefügt sei in diesem Zusammenhang das Thema der im Oktober 2017 großangelegten internationalen Tagung der Society of Dance History Scholars „Transmissions and Traces: Rendering Dance“ an der Ohio State University in Columbus, Ohio, bei der selbstverständlich auf die Trennung von Tanzgenres verzichtet wird.

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