An sich bedürfte es keiner besonderen Gelegenheit, an das bedeutende Tun der Margarete Wallmann zu erinnern, ein runder Geburtstag wäre also willkommener Anlass, sich dieser Persönlichkeit der Tanzmoderne aus heutiger Sicht zu nähern. Wäre da nur das entsprechende Datum bekannt! Ein solches zu finden erweist sich als schwierig, da Wallmann durch Verschleiern von Tag und Ort ihrer Geburt ihr Sein in jene Gefilde zu heben wusste, in denen sich Glamouröses entfalten kann. So sei also die 25. Wiederkehr ihres als fix anzunehmenden Todestags (2. Mai 1992) herangezogen, auf ihr Wirken zu blicken.
Was sonst als der Hang zum Glamourösen ließ die ebenso kluge wie schöne und eloquente Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Margarete Wallmann mit Verschleierungstaktiken arbeiten? Könnte es für ihre künstlerische Laufbahn nicht einerlei sein, ob man in Berlin oder Wien – Städte mit ähnlichem künstlerischen Klima – das Licht der Welt erblickt hatte? Und wo lag der Unterschied zwischen den in Wallmann-Biografien zu findenden Geburtsjahren 1901 oder 1904, außer in ein paar läppischen Jahren? (Neueste Forschungen von Ulrike Messer-Krol erhärten allerdings die Annahme, dass Wallmann doch am 22. Juni 1904 in Berlin geboren wurde.)
Diesen variabel gehandhabten Daten stand eine unveränderbare Tatsache gegenüber, mit deren Auswirkungen man weder in Berlin noch in Wien gerechnet hatte: Wallmann entstammte einer jüdischen Familie! Und dies bedeutete ab 1933 den Verlust nicht nur Berlins als mögliche Arbeitsstätte. Wohl hatten jüdische Künstler und somit auch Wallmann nach Arbeitsverboten in Deutschland nach Salzburg und Wien ausweichen können, doch bald war auch hier – und noch vor der 1938 erfolgten Einverleibung Österreichs in das nunmehr sogenannte „Altreich“ – der lange Arm der nationalsozialistischen Einflussnahme zu spüren.
Noch in den Dreißigerjahren war Wallmanns Karriere überaus glänzend verlaufen: Nach dem beispiellosen Aufstieg als Künderin der Kunst der Mary Wigman hatte sie mit einem eigenen „Tänzerkollektiv“ die „Tanzdramen“ „Orpheus Dionysos“ (Musik: Christoph Willibald Gluck, Münchner Tänzerkongress 1930) und „Das jüngste Gericht“ (Musik: Georg Friedrich Händel, Salzburger Festspiele 1931) erarbeitet. Danach war ihr – sie hatte sich mittlerweile von ihrer Meisterin gelöst – in Max Reinhardts ebenso glamourös-theatralischem wie innovativem Salzburg ein Erfolg nach dem anderen geglückt. Und dies gleich in mehreren Funktionen: zum einen als Choreografin, zum zweiten bereits als „Bewegungs-Regisseurin“. Noch in Berlin war 1933 Wallmanns Choreografie zu Reinhardts letzter Arbeit in Deutschland, „Das große Welttheater“, entstanden. Im Sommer folgte bei den Salzburger Festspielen ihre Opernregie von Glucks „Orpheus und Eurydike“ (dieses Werk hatte sie erstmals schon zu Jahresbeginn am Deutschen Theater in Prag herausgebracht, 1935 inszenierte sie es an der Wiener Staatsoper) sowie ihr Beitrag zu Reinhardts legendärer „Faust“-Inszenierung. Konsequenz all dieser Tätigkeiten war die Betrauung Wallmanns mit allen choreografischen Belangen der Salzburger Festspiele, wo sie unter anderen mit Bruno Walter und Arturo Toscanini arbeitete. In Wien wertete man Wallmanns Salzburger Tätigkeit als gelungenen Eignungstest für die gerade wieder vakant gewordene Ballettleitung der Staatsoper. Man übertrug ihr – somit einer Vertreterin der Tanzmoderne – 1934 diese Position und erneuerte den Vertrag dafür dann jährlich.
Wallmanns weitere Karriere der Dreißigerjahre wurde immer spektakulärer. Zu einer Arbeit für Londons Covent Garden 1934 kam der Ruf aus Hollywood für ein „getanztes Filmdrama“ – tatsächlich realisiert wurde 1935 eine Choreografie für Clarence Browns Film „Anna Karenina“ mit Greta Garbo. Von 1936 an wirkte sie immer wieder an der Mailänder Scala (zu der Zeit entstand auch die Choreografie zu dem Film „Regina della Scala“, 1937), 1937 holte man sie zum Maggio Musicale Fiorentino und an das Teatro Colón in Buenos Aires. Parallel dazu lag die fortlaufende Tätigkeit für die Wiener Oper. Und plötzlich ging alles sehr rasch: Schon am 13. März 1938, sofort nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland, hatte sich ein „Reichspropagandaamt“ in Wien etabliert, das für „Beurlaubungen“ beziehungsweise „Enthebungen“ hiesiger jüdischer Künstler zuständig war. Noch im März kam es zu Wallmanns „Außerdienststellung“, die auf dem „Wege der Beurlaubung“ – die Choreografin weilte zu dieser Zeit wieder in Buenos Aires – wirksam wurde. Die Vertragsauflösung erfolgte, so die Mitteilung der Direktion der Staatsoper an Wallmann, „da dem nationalsozialistischen Staat die Fortsetzung des mit Ihnen abgeschlossenen Dienstvertrages nicht mehr möglich erscheint“. (Zu dieser Zeit erfolgte auch die Auflösung ihrer 1934 mit Hugo Burghauser, Vorstand der Wiener Philharmoniker, geschlossenen Ehe.)
Österreichbilder, konstruiert mit den Mitteln der Moderne
Angesichts der Tatsache, dass Wallmann in den Dreißigerjahren sowohl als Choreografin wie auch als Regisseurin des Musiktheaters nicht nur in Europa heftig umworben wurde, könnte man vermuten, dass die auch noch als Tänzerin wirkende Künstlerin von ihrem eigenen Ensemble – dem Ballett der Wiener Staatsoper – zumindest geschätzt worden wäre. Das Gegenteil war der Fall. Inwieweit die (auch antisemitisch grundierten) Anfeindungen, denen Wallmann während ihrer Wiener Jahre als „Ballettmeisterin“ ausgesetzt war, sie persönlich berührten, ist nicht überliefert. Überliefert ist jedoch ein Aufstand des Wiener Ballettensembles gegen sie. Sosehr dieses klassische Ensemble tanzästhetisch gesehen auch in sich gespalten war – hier diejenigen, die der Tanzmoderne eher aufgeschlossen begegneten, dort die, die dem 19. Jahrhundert anhangen, so einig war man sich, wenn es gegen „Fremde“ ging. Wallmann war dies nach Meinung des Ballettensembles vor allem deswegen, weil sie von einem anderen ästhetischen „Lager“ kam, der Tanzmoderne.
Mit Wallmann war somit der an den mitteleuropäischen Opernhäusern der Zwischenkriegszeit ausgetragene Kampf zwischen „Ballett“ und „Tanzmoderne“ endgültig auch in der Staatsoper angekommen. Diese Auseinandersetzung war hier keineswegs neu, sie hatte schon Ende der Zwanzigerjahre mit Sascha Leontjew begonnen – es gelang dem Ensemble sich dieses modernen Tänzers nach zwei Jahren als Ballettmeister des Hauses (1928–30) zu entledigen – und war mit den Gastchoreografinnen Grete Wiesenthal und Valeria Kratina mit wechselndem Erfolg fortgesetzt worden.
In dem Eifer, sich nach einigen Jahren unter Wallmanns Ballettmeisterschaft (1934–38) gegen diese „Fremde“ zu stemmen, übersah das Ensemble etwas ganz Wesentliches. Nachdem Wallmann in Wien 1933 zunächst ihren Salzburger Erfolg, „Das jüngste Gericht“, herausgebracht hatte (dazu kam als Novität „Tschaikowsky-Phantasie“ unter Benutzung der „Nussknacker-Suite“), gelang ihr im Folgejahr mit gleich zwei Produktionen – „Fanny Elßler“ (Musik: Michael Nádor) und „Österreichische Bauernhochzeit“ (Musik: Franz Salmhofer) – etwas Bemerkenswertes: Wallmann hatte eine neue Werkform kreiert! In einem groß angelegten Spektakel, das Schaulust mit Schauwert verband, stellte sie ein Wien- bzw. Österreichbild auf die Bühne, das der Findung einer eigenen Identität dienen konnte. Gerade dies lag im Interesse des damaligen Staates.
Gewollt oder ungewollt war die neue Werkform zum Ausdrucksträger eines politischen Systems geworden. Wallmann, so hieß es, leiste damit „österreichische Kulturarbeit“. Dass diese Form, die das konstruierte „gute alte Wien“ auf die Bühne stellte, mit den Mitteln der Tanzmoderne geformt wurde, sei ausdrücklich hinzufügt. Und hier lag auch der Kern der Auseinandersetzung. Die Ensemblemitglieder, die sich als Träger einer jahrhundertealten Körperfertigkeit sahen, fühlten sich, da die Moderne diese Fertigkeiten negierte, um die Grundfesten ihres körpertechnischen Daseins betrogen. Da Wallmann auch in ihren weiteren Produktionen für die Staatsoper – „Weihnachtsmärchen“ (Musik: Johann und Josef Strauß, Salmhofer, 1934) und „Der liebe Augustin“ (Musik: Alexander Steinbrecher, 1936) an ihrer modernen Auffassung festhielt, war es schließlich zum Aufstand gekommen. Einmal mehr übersah man dabei, dass Wallmann mittlerweile eine wahre „Österreichtrilogie“ erstellt hatte: Mit der „Augustin“-Legende wurde das barocke Wien behandelt, mit „Fanny Elßler“ das Biedermeier, mit der „Österreichischen Bauernhochzeit“ die aktuell im „Ständestaat“ gewünschte „Pflege“ von Traditionen und „alten“ Bräuchen betrieben. – Woher aber stammen jene Mittel, die Wallmann hier als Choreografin und auch als (Opern-)Regisseurin einsetzt?
Vom „Zusammenschwingen tänzerischer Individualitäten“ zum „chorisch gebundenen Massentanz“
Wallmann hat eine überaus interessante tänzerische Ausbildung aufzuweisen. Nach einem Studium des klassischen Tanzes in Berlin und München erfolgte 1921 ihr Debüt bei Reinhardt mit einem Soloprogramm in den Kammerspielen des Berliner Deutschen Theaters. 1923 gerät Wallmann in den Sog der zu dieser Zeit alles beherrschenden modernen Tänzerin Mary Wigman. Eine stilistische Kehrtwende folgt. Sie absolviert ein Wigman-Studium in Dresden und beginnt im Sinne der Meisterin (auch als Mitglied ihrer Tanzgruppe) zu tanzen. Fred Hildenbrandt bewundert den „tiefen Ernst ihrer Kunst“, ihre „stark empfundenen“ Tänze, die durch „vertiefte Durchbildung der Körpermöglichkeiten“, seltenen „Schwung“ sowie „außergewöhnlich starken dramatischen Elan“ charakterisiert sind. Zudem weiß Wallmann auch, dem Modernen Tanz glamouröse Facetten abzugewinnen. Als diplomierte Lehrerin der Wigman-Schule-Dresden beginnt sie zu unterrichten. Sie tut dies höchst effizient als Leiterin der schon seit 1927 existierenden Wigman-Schule in Berlin, die – auch aufgrund ihrer Persönlichkeit – nach der Eröffnung neuer Räumlichkeiten 1929 ein Zentrum der Bewegung des Modernen Tanzes wird. Dies auch deswegen, weil Wallmann das neue Medium Rundfunk zu nutzen vermochte. Via „Deutsche Welle“ spricht sie nun über ihre Meisterin.
Während ihrer „Wigman-Jahre“ wird Wallmann Teil eines Entwicklungsprozesses, den Wigman selbst in den Zwanzigerjahren in Bezug auf den Einsatz einer Gruppe – das heißt einer größeren Anzahl Tanzender – durchlebt. Wigman, die, wie die meisten Vertreter des Modernen Tanzes, ihre Karriere als Solotänzerin begann, zieht nun die Gruppe in wechselnder Zusammensetzung und Aufgabenstellung heran. Aus dem anfänglichen, wie der Kritiker Artur Michel es nennt, „Zusammenschwingen tänzerischer Individualitäten zu einer höheren orchestralen Einheit“ (in der Wigman-Gruppe der frühen Zwanzigerjahre befinden sich Persönlichkeiten wie Berthe Trümpy, Hanya Holm, Gret Palucca, Yvonne Georgi und Vera Skoronel) wird ein „chorisch gebundener Massentanz“. Die Gruppe wird zur Gemeinschaft einer „orchestralen Raummusik“, die je nach Inhalt und vorliegender Musik durch „zentrifugale und zentripetale Kräfte“ auseinandergerissen werden kann, um wieder neue Raumgestalt anzunehmen.
Um 1930 weiteten sich die Tätigkeiten Wallmanns auf die USA aus. Beauftragt von Wigman propagiert sie vortragend und demonstrierend deren erste Amerikatournee, an der New Yorker Denishawn-Schule leitet sie einige Gastkurse. Den Ko-Direktor der Schule, Ted Shawn – ein Pionier des amerikanischen Modern Dance –, hatte sie zuvor eingeladen, in Berlin in ihrem ersten Tanzdrama „Orpheus Dionysos“ die Titelrolle zu verkörpern! Wallmann gehört somit zu den Ersten, die einen transatlantischen Dialog zwischen dem Modernen Tanz mitteleuropäischer und dem amerikanischer Prägung in Gang setzte. (Interessant in diesem Zusammenhang, mit welch beißendem Spott die deutsche Kritik 1930 den eigenen Tanzabend Shawns in Berlin kommentierte. Gleichwohl gab es auch deutsche künstlerische Instanzen, denen der Tänzer sehr gut gefiel. Der berühmte Bildhauer Georg Kolbe etwa, der sich bereits Wazlaw Nijinski zugewandt hatte, fertigte zahlreiche Skizzen sowie Plastiken von Shawn an. Shawn wiederum widmete Wallmann im berühmten amerikanischen Tanzjournal „The Dance Magazine“ den Artikel „Germany’s newest genius“.)
Wallmann setzt nun in ihrer ersten eigenen Bühnenproduktion, zunächst noch dem Vorbild Wigman gemäß, Kontraste zwischen tänzerisch bewegter Gruppen und Solisten ein. Dabei werden, wie dies Fritz Böhme wiederholt bemerkt, auch Laban’sche Kompositionsmotive sichtbar. Dies belege wiederum indirekt, so der Kritiker, wie sehr Wigman das Lehrgut ihres Meisters Rudolf von Laban in sich aufgenommen habe. Wallmann weiß aber auch schon früh das Formale – und dies im Unterschied zu Wigman – inhaltlich-dramatisch aufzuladen. Dies gelang bereits 1929 bei einer Schüleraufführung: Wallmann habe sich da, so Michel, schon als ein „Regietalent“ bewiesen, mit dem zu rechnen sei.
(Tanz-)Regie als überlebender Teil der Bewegung des Modernen Tanzes
Blickt man auf das Lehrangebot der Schulen des Modernen Tanzes, mithin auch auf die Berliner Wigman-Schule, der Wallmann bis 1932 vorstand, so findet sich da das Fach „Tanzregie“, das sich der „Anleitung zu Komposition und Einstudierung von Gruppentänzen“ zuwandte. Unter der Gruppe verstand man aber nicht nur eine Tänzergruppe, die begleitend oder als eigene Größe agieren konnte, sondern auch einen Sängerchor. Beide Körperschaften lernte man räumlich zu führen. Schon in den Zwanzigerjahren hatten die im Musik- und Sprechtheater Regie führenden modernen Tänzerinnen und Tänzer – und hier ausgehend von der 1913 erfolgten zukunftsweisenden Inszenierung von Glucks „Orpheus und Eurydike“ der Rhythmus-Anstalt Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau – das neue künstlerische Betätigungsfeld der „bewegten Regie“ entwickelt. Zu den bekanntesten Vertretern des neuen Genres gehörten Wigman, Rosalia Chladek, Max Terpis, Kurt Jooss.
Als nach 1945 Mitteleuropa in den Einflussbereich der dem klassischen Tanz verpflichteten Besatzungsmächte kam, geriet der Moderne Tanz im buchstäblichen Sinne außer Mode. Die dadurch entstandene Krise der künstlerischen Existenz der Vertreter des nunmehr als „alt“ angesehenen Modernen Tanzes konnte zuweilen durch Regiearbeiten für Oper und Schauspiel aufgefangen werden. Wallmann, die in den Kriegsjahren als Ballettmeisterin am Teatro Colón gearbeitet und dort ein respektables Repertoire aufgebaut hatte, bewies gerade in diesen Jahren, in denen es galt, eine neue künstlerische Identität zu finden, Wendigkeit. Mochte Opernregie für manche Kolleginnen (Wigman, Dore Hoyer) künstlerische Ersatzhandlung sein, vermochte Wallmann die Situation ins Gegenteil zu kehren. Dank des Propagierungstalents und der glamourösen Aura der eigenen Person wusste sie sich einen Nimbus als Opernregisseurin zu schaffen, der nicht nur erste Künstler der Nachkriegszeit anzog, darunter Maria Callas und Herbert von Karajan, sondern auch die Presse, die sie schließlich als „einzige Opernregisseurin“ der Welt feierte.
Wallmann begann ihre erneute Tätigkeit in Europa schon 1946; in den Caracalla-Thermen in Rom brachte sie Ottorino Respighis „I pini di Roma“ heraus. Nach der endgültigen Rückkehr nach Europa 1949 wurde die Mailänder Scala Zentrum ihres Wirkens. Dort gelangen ihr immer wieder auch deswegen spektakuläre Ballettproduktionen, weil sie Werke oder Exponenten verschiedener Traditionen und Epochen miteinander zu verquicken wusste. Durch Stars wie Margot Fonteyn und Robert Helpmann, Yvette Chauviré und Tamara Toumanova wurden die Aufführungen noch anziehender. Erwähnt sei ein „Dornröschen“ (1950), in dem es neben der überlieferten Klassik auch frei gestaltete Passagen gab. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren erweiterte Wallmann ihr Betätigungsfeld auf alle großen Opernhäuser der Welt. Im Fokus ihrer bis in die späten Achtzigerjahre reichenden Arbeit stand nun die Opernregie, der sie sich, wie Wigman rückblickend befand, „unermüdlich, fanatisch, besessen und bis ins Letzte verantwortungsbewusst“ verschrieb. Ein besonderes Anliegen Wallmanns auf diesem Gebiet lag wiederum – und dies entsprach dem Anspruch des Modernen Tanzes, eine neue Choreografie gemeinsam mit einem Komponisten zu erarbeiten – in der Kreation zeitgenössischer Werke des Musiktheaters. Davon seien nur genannt: Francis Poulencs „Dialoghi delle Carmelitane“ (Mailand 1957) und Ildebrando Pizzettis „Assassinio nella cattedrale“ (Mailand 1958). Weltweite Beachtung erregten ihre gleichermaßen effektvollen wie dekorativen Produktionen, an denen – etwa in „Norma“ – die Callas mitwirkte. 1954 kommt es bei den Salzburger Festspielen zu einer neuerlichen Zusammenarbeit mit dem Ballett der Wiener Staatsoper, aufgeführt werden „Salzburger Divertimento“ (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart / Bernhard Paumgartner), „La Giara“ (Musik: Alfredo Casella) und Arthur Honeggers „La Danse des morts“, das 1955 als Reprise unter dem Begriff „Szenische Oratorien“ gemeinsam mit Igor Strawinskis „Persephone“ gegeben wird. 1960 gelangt, wiederum in Salzburg, Frank Martins „Mysterium von der Geburt des Herrn“ zur szenischen Uraufführung.
Unter den vielen Opernhäusern, in denen Wallmann inszenierte, sind auch diejenigen von Berlin – wo Wigman mit Veuve Clicquot, also dem Glamour von „Gretchen“ gemäß, auf den Erfolg anstößt – und Wien. Von ihren sechs zwischen 1958 und 1962 in der Ära Karajan an der Wiener Staatsoper herausgebrachten Regiearbeiten („Tosca“, „Die Gespräche der Karmeliterinnen“, „Mord in der Kathedrale“, „Die Macht des Schicksals“, „Turandot“, „Don Carlos“) steht ihre „Tosca“ aus dem Jahr 1958 noch immer auf dem Spielplan – mit einer Aufführungsanzahl, die im Januar 2018 die Marke „600“ (!) erreicht haben wird. (In ihrer 1976 erschienenen Autobiografie „Les Balcons du ciel“ beklagt Wallmann, dass nach dem Abgang Karajans als Künstlerischer Leiter der Staatsoper nichts mehr an dieser Inszenierung intakt geblieben sei.)
Hand in Hand mit Wallmanns zunehmendem Alter vollzog sich in Mitteleuropa eine Akzentverschiebung in der Sicht auf zeitgenössische Opernregie. Lag der Fokus der Zwanzigerjahre auf der „bewegten“ Präsentation von musikalisch geformten Inhalten, so verschob sich nun die Zielsetzung: Das Interesse galt jetzt dem Dialog (gesellschaftlicher) Umräume zwischen Entstehungszeit des Werkes und der realen Zeit. Dass es auch hier wieder eine Frau war, die diese Intention „bewegt“ auf die Bühne zu bringen vermochte, ist nicht verwunderlich, stand sie – Ruth Berghaus – doch ebenfalls in der Tradition des Modernen Tanzes. Die Mittel, die sie via Palucca in dem Fach „Tanzregie“ erlernt hatte, machten es möglich, die innere Bewegtheit der Agierenden, Gesangssolisten wie Chor, sichtbar werden zu lassen. Das Gleiche mag für die nächsten Generationen der Erbinnen des Modernen Tanzes gelten, die sich auch der Kultivierung der Kunst der Opernregie verschrieben haben – Künstlerinnen wie Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Arila Siegert, aber auch Sasha Waltz, Daniela Kurz oder Anne Teresa De Keersmaeker.