Die Wiener Gastspiele der Matilda Kschessinskaja 1903 und 1912 verliefen spektakulär. Die Beachtung, die man der Mariinski-Ballerina entgegenbrachte, betraf vielerlei: ihre Schönheit, ihren Schmuck, ihre Nähe zum Zarenhof – der Zarewitsch nannte seine Geliebte „Little K.“ –, gewiss auch ihr Können. All dies mochte ein damals wieder in Wien lebender, lange Zeit als Ballettkomponist in Russland tätig gewesener Musiker genutzt haben, um sich in Erinnerung zu rufen. Ob Ludwig Minkus nun die Kschessinskaja in Wien tatsächlich traf, ist nicht überliefert.
Die Strahlkraft der Kschessinskaja – ihr Status als „Primaballerina assoluta“ der Kaiserlichen Theater tat nun auch in Wien seine Wirkung – mochte den nunmehr im Ruhestand befindlichen Minkus – er starb vor 100 Jahren 91-jährig am 7. Dezember 1917 in Wien – an jenen Glanz erinnern, zu dem er selbst über Jahrzehnte hinweg sowohl in Moskau wie in St. Petersburg beigetragen hatte. Seine Kompositionen waren (und sind) es nämlich, die dem russischen Ballett unter der choreografischen Führung von Marius Petipa jene Grandeur gaben, in der es heute noch eingebettet ist. So omnipräsent Minkus in Russland mit Werken wie „Don Quixote“ (Moskau 1869), „La Bayadère“ (St. Petersburg 1877) oder dem Grand Pas zu „Paquita“ (St. Petersburg 1881) auch gewesen war, so isoliert schien er jetzt in Wien zu sein, wohin er Anfang der 1890er Jahre zurückgekehrt war.
Minkus hatte seine ersten Pensionisten-Jahre in Wien nicht untätig verstreichen lassen. 1897 hatte er sich an die Hofopernintendanz gewandt, um ein Ballett einzureichen. Er tat dies obwohl bekannt war, dass Gustav Mahler, der gerade die Direktion des Hauses übernommen hatte, insbesondere was das Ballett betraf als schwer zugänglich galt. Im Bewusstsein seiner großen Theatererfahrung als „Ballet-Compositeur der Kaiserliche Russischen Theater“, eine Stellung, in der er – meist in Zusammenarbeit mit Petipa – rund zwei Dutzend Ballette herausgebracht hatte, bot er nun das einaktige Divertissement „Tanz und Mythe oder ein Maskenfest“ an. Die Reaktion war negativ: „(...) Die Musik des Werkes wurde wohl entsprechend befunden, doch ist die Handlung derart anspruchslos und das Sujet veraltet, daß die Annahme des Werkes nicht beantragt werden kann“ (gezeichnet Gustav Mahler).
Minkus, am 23. März 1826 in Wien geboren, hatte am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde Violine studiert. Als Louis Minkus gab er hier auch seine ersten Konzerte, in denen er schon eigene Kompositionen spielte. 1845 wurde er als „einer der talentbegabtesten jungen Künstler auf der Violine, welcher in verflossener Saison sich hier in Wien ebenso als Spieler wie als Komponist die ehrenvolle Würdigung der Kunstkenner und der Kritik erworben hat“ bezeichnet. Nach einem Engagement im Orchester der Wiener Hofoper, war er ab 1853 in Russland tätig, zunächst zwei Jahre als Kapellmeister im Leibeigenen-Theater des Fürsten Jussupow in St. Petersburg, danach am Michailowski-Theater. 1861 nahm er die Stelle eines Konzertmeisters am Moskauer Bolschoi-Theater an, 1862 wurde er „Inspektor für Ballettmusik“ und komponierte im selben Jahr sein erstes Ballett für dieses Theater. Gleichzeitig war er als Pädagoge am Moskauer Konservatorium tätig. Minkus hatte aber auch für die Pariser Oper komponiert. Zu dem 1866 uraufgeführten Ballett „La Source“ von Arthur Saint-Léon, steuerte er das erste und letzte Bild bei, Léo Delibes das zweite und dritte. 1872 trat er als Nachfolger von Cesare Pugni den Posten des Ballettkomponisten an den Kaiserlichen Theatern in St. Petersburg an und setzte seine in Moskau mit „Don Quixote“ begonnene Zusammenarbeit mit Petipa fort. Nach der 1886 erfolgten Auflassung der Position des Ballettkomponisten wurde Minkus pensioniert. „Kalkabrino“ schließlich, 1891 in St. Petersburg uraufgeführt, war aus bereits existierender Minkus-Musik zusammengestellt.
In Wien war der Ballettkomponist Minkus aber kein Unbekannter. Noch am Kärntnertortheater war 1868 Saint-Léons „Sprühfeuer“ („Fiamma d’amore“) gegeben worden. Dieses Ballett war davor schon – immer unter anderem Titel – in Moskau, St. Petersburg und Paris zur Aufführung gelangt, 1871 wurde es ins Haus am Ring übernommen. Sieben Jahre später kam Minkus’/Delibes’ „La Source“ unter dem Titel „Naïla, die Quellenfee“ ins Repertoire der Hofoper, der Choreograf war Carl Telle.
Nachdem Minkus’ Wiener Ansuchen von 1897 erfolglos geblieben war, taucht sein Name 1907 in Zusammenhang mit Carl Godlewskis Ballett „Rübezahl“, für das einzelne Nummern aus „La Source“ verwendet wurden, noch einmal auf den Programmzetteln der Hofoper auf. Erst 1966, knapp 50 Jahre nach seinem Tod, hielt Minkus mit „Don Quixote“ in der Fassung von Rudolf Nurejew wieder mit einem abendfüllenden Werk Einzug in das Wiener Repertoire, 1999 folgte mit Vladimir Malakhovs Version von „La Bayadère“ ein weiteres Hauptwerk des Komponisten.
Werkstatt Ballett
Entsprechend dem Werkstattcharakter und der Prozesshaftigkeit, mit denen die Kreation eines Balletts im 19. Jahrhundert verbunden war, entstand ein neues Werk in engster Zusammenarbeit zwischen Komponist, Choreograf und Ausführenden. Der Ort dieser Teamarbeit war das Theater, die Arbeit konnte aber auch – wie dies etwa bei Petipa wiederholt der Fall war – in der Privatsphäre der Beteiligten fortgeführt werden. Dies traf besonders bei Sonderwünschen der Ballerinen zu, die sich für besondere Anlässe Soli „bestellten“. Bestens mit den Vorzügen der jeweiligen Tänzerin vertraut, verstanden es Petipa wie Minkus (wie auch Pugni oder Riccardo Drigo) meisterhaft, die tänzerischen Charakteristika der Bittstellerinnen auf die Bühne zu bringen. So bat die Kschessinskaja den „teuersten“ Meister etwa, einen Pas de deux für ein Gastspiel in Paris zu stellen. Der Meister wiederum stand dem Tun der Ballerina zuweilen animos gegenüber. 1903 etwa bezeichnete er sie als „boshaften Saumenschen“ und blieb daher der 100. Vorstellung seines Balletts „Dornröschen“ fern. Prinzipiell vom Fach der Ausführenden ausgehend, schöpfte der Choreograf aus dem Reservoir tänzerischer Materialien. Dieses bestand aus Adagio- oder Allegroqualitäten, Lyrik und Attacke, aus „noble“, „demi-caractère“ und „caractère“, aus eleganter Balance, wirbelnden Drehungen oder perlenden kleinen Schritten.
Als Ballettkomponist wusste Minkus, dass diese so verschiedenen, oft miteinander verbundenen Schritt- und Tänzerfachwelten, rein musikalisch gesehen, keine musikalische Eigenart zu haben hatten, sie vielmehr in ihrem „Wirkungszusammenhang zu begreifen“ waren (Thomas Steiert). Die Qualität der Musik entfaltete sich allein in dem als Ganzes zu sehenden Wirkungskreis von Persönlichkeit der Ausführenden, der Choreografie und der szenischen Aktion. Minkus stellte sich – und dies galt selbst für einen Komponisten wie Pjotr Tschaikowski – dem szenischen Plan des Choreografen „anheim“, der genaue Vorstellungen vom Charakter der Musik enthielt. Minkus wusste um tänzerische wie choreografische Praktiken, er kannte das Schrittrepertoire und Bewegungsabläufe ebenso wie Bewegungsdetails. Seine Musik war nie „einfache Begleitung“ oder „stimmungshafte Kulisse, vielmehr musste sie bis in einzelne Motive hinein präzise der zeitlich-rhythmischen Anlage der Choreografie folgen.“ Diese Motive mussten zugleich den passenden Ausdruckscharakter der jeweiligen Szenen und Situationen hervorheben. Die Forderungen an die Ballettmusik lautete: Flexibilität im Ausdruck, Beweglichkeit im rhythmischen Verlauf, atmosphärebildender Klangraum, unterstützendes Mittel der mimischen Erzählung, Verknüpfung mit dem szenischen Bild und der choreografischen Formation. „Die räumlichen Dimensionen, die das Auge wahrnimmt, sollten durch die Musik eine zusätzliche Kontur gewinnen.“ Minkus war sich auch bewusst, dass seine Musik wechselnde Funktionen zu erfüllen hatte, sie musste den unterschiedlichen choreografischen Ebenen – der Mimik, der Atmosphäre und dem Tanz – entsprechen. Minkus wusste um den (Frei-) Raum, den der Bühnentanz benötigte.
„Little K.“ oder Die Virtuosität der Koketterie
Choreografen und Ballettkomponisten waren nicht nur mit den Ensemblemitgliedern des Mariinski-Theaters vertraut, man hatte auch schon die vielversprechenden Talente der Schule im Blick. Als Tochter des gebürtigen Polen Felix Kschessinski (polnisch: Feliks Krzesiński), der als herausragender Charaktertänzer des Mariinski-Ensembles gefeiert war, gehörten die drei Kschessinski-Kinder, die die Ballettschule des Mariinski-Theaters besuchten, gleichsam immer schon zum Haus. Matilda, 1872 geboren, studierte u. a. bei jenen legendären Lehrern, die heute als verantwortlich für die Bildung der russischen Schule gelten: der Schwede Christian Johansson sowie der Italiener Enrico Cecchetti. Der noble Johansson sah jeden Schritt als Ausdrucksträger, er bestand darüber hinaus darauf, Pose mit Pose ineinander fließen zu lassen. In Spannung dazu stand die Virtuosität, Klarheit und Schärfe der Beinarbeit, die Cecchetti unterrichtete. Diese wurde insofern zusätzlich gesteigert, indem man die Bein- und Fußarbeit der Tänzerin zusätzlich dadurch in den Fokus rückte, dass man sie von einem Partner anheben ließ. Dazu kamen eine Weiterentwicklung von Sprüngen und Pirouetten, die nunmehr auf Spitze ausgeführt wurden, dazu die Betonung eines länger gehaltenen Pliés bei einer Landung sowie die maximale Streckung der Beine. Auf der Ebene der Präsentation galt als Subtext klar das Prinzip des „en-face“, das heißt, ein zuweilen intensiv geführter Dialog mit dem (männlichen) Zuschauer wurde erwartet.
Matilda Felixowna Kschessinskaja wurde 1890 graduiert, ihr erklärtes Ziel war es, in Technik und dramatischem Spiel jenen italienischen Ballerinen – etwa Carlotta Brianza oder Pierina Legnani – nachzueifern, die, einer international geltenden Regel zu Folge, ausländischen, somit auch russischen Ensembles vorstanden. Kschessinskaja scheint eine der ersten Russinnen gewesen zu sein, die es mit der Virtuosität der Italienerinnen aufzunehmen vermochten. Erfolge stellten sich sofort ein, schon 1891 hieß es, sie hätte „Bravura“ und „Fußspitzen aus Stahl“, man prophezeite eine große Karriere, gesetzt den Fall, so fügte man hinzu, die Administration des Theaters lasse diese zu.
Wie sich bald erweisen sollte, war die Theateradministration bald dazu gezwungen, die Verantwortlichkeit für die Kschessinskaja abzugeben. Der Grund dafür war jenes Essen, das der Zar 1890 für die Absolventen der Ballettschule gegeben hatte. „Little K.“ war da – in vorauseilender Vorsorge, denn der Zarewitsch galt noch als sehr kindlich – zwischen dem Zaren (Alexander III.) und dem Zarewitsch (der spätere Nikolaus II.) platziert worden. Die Kokette wusste ihre Chance zu nutzen. Die Liaison, die der Zarewitsch mit der Tänzerin unterhielt, dauerte bis zu dessen Heirat 1894. (Angesichts der vorhandenen Dokumente, der Art und der Dauer dieser Beziehung, kann man über die historisch unzutreffende Handlungsführung des 2017 uraufgeführten russischen Films „Matilda“ nur staunen.) Aus nicht nachvollziehbaren Gründen meinte der spätere Zar, die Beziehung zwischen ihm und der Tänzerin könnte ihrer Karriere schaden, das Gegenteil war der Fall.
Bis zum Ausbruch der Revolution „regierte“ die Kschessinskaja nun das Ballettensemble des Mariinski-Theaters. Sie beanspruchte ein Monopol auf bestimmte Rollen, sie gab zu Beginn der Saison Bulletins aus, was sie zu tanzen und was sie nicht zu tanzen gedenke. Auf ihren Wunsch hin wurden auch ältere Ballette wie etwa Minkus’ „Mlada“ wiederaufgenommen. 1896 geschah dies in der Dekoration der gleichnamigen, 1892 uraufgeführten Oper von Nikolai Rimski-Korsakow. Kschessinskajas Motivation, auf diesem Ballett zu bestehen, mag der Inhalt der russischen Legende gewesen sein: Eine Fürstentochter ermordet die Braut ihres Angebeteten. Die darauffolgende Beziehung verläuft keineswegs glücklich. Ähnlichen Inhalts ist auch die 1899 uraufgeführte Oper „Zarenbraut“ von Rimski-Korsakow: ein Eifersuchtsdrama voll Intrigen und patriarchalischer Machtstrukturen. Handelte man nicht nach dem Willen der Ballerina, wurde man vom Hof abgemahnt, zuweilen auch seines Postens enthoben. Dies widerfuhr just dem Intendanten der Kaiserlichen Theater, Fürst Sergej Wolkonski.
Die Krinolinen-Affäre
Herausragend an Wolkonski war nicht, dass er der Hocharistokratie angehörte, sondern dass er Teil der St. Petersburger Intelligenzia war. Ungern hatte er 1899 die Position des Intendanten der Kaiserlichen Theater übernommen, dies deswegen, weil die oftmaligen Einwände des Hofes weder logisch erklärbar noch künstlerisch nachvollziehbar waren. Kschessinskajas Allmacht, ihr Anspruch auf bestimmte Rollen, dazu das Interesse des Publikums an ihr – man meinte allgemein, der nunmehrige Zar führe seine Liaison mit ihr weiter – war ihm ein Dorn im Auge. Das heikle Verhältnis spitzte sich angesichts einer Aufführung des Balletts „Camargo“ von Petipa und Minkus zu. Die Trägerin dieser Rolle hatte eine Krinoline unter ihrem aufwendigen russischen Kostüm zu tragen. Gerüchte, die nicht nur im Theater, sondern auch in der Stadt laut wurden, besagten, dass die Tänzerin keine Krinoline tragen werde. Nachdem sie dann tatsächlich ohne dieses Kleidungsstück aufgetreten war, veröffentliche das Theater eine Presseaussendung, wonach die Ballerina zu einer Geldstrafe verurteilt werde. Der Hof schaltete sich ein, es wurde verlangt, diese Aussendung zu dementierten. Wolkonski tat dies, reichte aber gleichzeitig seine Demission ein. Der Zar nahm diese huldvoll entgegen. Mit großer Erleichterung konnte Wolkonski sich nun dem widmen, wofür er sich auch noch leidenschaftlich in der jungen Sowjetunion einsetzte: Er wurde ein europaweit agierender Künder der künstlerischen Bewegungs-Avantgarde.
„Der Kaiser neigte sein Haupt“
Aus vielerlei Gründen erweist es sich als aufschlussreich, den zahlreichen Medienberichten der Wiener Gastspiele der Kschessinskaja nachzugehen. Zum ersten fällt auf, dass sich nur ein einziger der Schreiber kompetent über Bühnentanz äußerte. Für die meisten „Feuilletonisten“ gehörte es sogar zum guten Ton, sich als fachlich inkompetent zu bekennen. Man tat dies in der Überzeugung, dass das Beschriebene – das Ballett – per se keine Kunstgattung sei, mit der man sich seriös auseinanderzusetzen habe. Der Grund dafür war wohl, dass man Ballett und Tanz an sich als Frauenäußerung betrachtete. Auch deswegen bediente man sich oft einer eigenen, dümmlich-tändelnden „frauengerechten“ Sprache. Der dritte auffallende Punkt ist das Betonen „nationaler“ Aspekte, hier wurde das „wir“ (die in Wien heimischen) gegen „die anderen“ (aus der Fremde kommenden) ausgespielt, eine Vorgangsweise, die in den Rezensionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht üblich war. Im Eifer des Tagesgeschehens – das Gastspiel der Kschessinskaja zog sich über mehrere Wochen – übersah man jedoch das wesentlichste dieser Auftritte, ein Faktum, das, freilich retrospekt, leicht zu bemerken ist: Die Auftritte der Kschessinskaja bildeten den Höhepunkt, gleichzeitig aber auch den Endpunkt der Entwicklung des klassischen Bühnentanzes des 19. Jahrhunderts. Eingebettet in eine hierarchisch aufgebaute Ensembleordnung, die wiederum – noch – Teil einer größeren gesellschaftlichen Ordnung war, standen an deren Spitze die Kschessinskaja einerseits und der Zar andererseits. Der Höhepunkt, der in Form und Mittel erreicht worden war – und dies galt für den Wirkungskreis der Kschessinskaja ebenso wie für den des Zaren – konnte nicht mehr übertrumpft werden.
Dass eine der künstlerisch-tänzerischen Revolutionen sich ausgerechnet in diesen Tagen in Wien manifestierte, wurde von den Medien weniger registriert als die politische, die sich nur zwei Jahre später in Russland ereignete. Dass das Gastspiel der Isadora Duncan just in jenen Tagen stattfand, als die Kschessinskaja in der Hofoper tanzte, kann als höchst bemerkenswertes Zusammentreffen von Alt und Neu gesehen werden. Dass das Alte sich in der Stadt – der Hofoper – abspielte, das Neue jedoch in der ehemaligen Vorstadt – dem Carltheater –, überrascht keineswegs. (Die Duncan hatte ein Ansuchen an die Hofopernintendanz um eine Auftrittsmöglichkeit in der Oper gestellt, als Empfehlung merkte sie ihren Auftritt vor dem Kaiser in Ischl an. Das Ansuchen wurde abschlägig beschieden.)
Wie das Gastspiel der Kschessinskaja zu Stande gekommen war, ist nicht klar. Fakt ist, dass Kaiser Franz Joseph im April 1897 einen Staatsbesuch in Russland absolviert hatte. Bei einer Festvorstellung im Mariinski-Theater waren zwei Akte „Dornröschen“ mit der Kschessinskaja als Aurora gegeben worden. Die Aufführung war, wie der Zar in seinem Tagebuch festhielt, „wunderbar!“ Ende 1902 war Hofopernballettmeister Josef Hassreiter auf „höhere Veranlassung“ nach St. Petersburg gereist, um das dortige „Ballettwesen“ zu studieren. Er berichtete, wie aus Dokumenten hervorgeht, über die „sehr gute Tänzerin“ Kschessinskaja, meinte aber, dass ein längerfristiges Engagement kaum in Frage käme, „da das Fräulein in jeder Hinsicht in Petersburg gebunden ist“. Überdies gab er zu bedenken, dass es zu Schwierigkeiten mit der damaligen Wiener Primaballerina Irene Sironi kommen könnte. Das Gastspiel der Kschessinskaja verlief dann auch bewegt. Die Künstlerin kam mit einer größeren Entourage – Zeitungen sprachen von 22 Personen – und stieg im Hotel Imperial ab. Mit Nikolai Legat (der zunächst verletzt war) und Michail Obuchow kamen zwei Partner für den klassischen Tanz, mit Alfred Bekefi einer für Charaktertanz. Kschessinskaja tanzte zunächst (20. März 1903) Swanilda in „Coppelia“ und eine eingelegte Danse hongroise in „Wiener Walzer“, die, mit Bekefi ausgeführt, besonderen Beifall fand. In „Harlekin als Elektriker“ bot sie tags darauf einen eingelegten Pas de deux mit Obuchow und „La Calabreise“ mit Bekefi dar. Am 27. März trat sie erstmals als Civilisation in „Excelsior“ auf, Obuchow gab den Afrikanischen Sklaven. Während die Choreografie betreffende Details nicht zur Sprache kamen, diskutierten die Zeitungen darüber, ob der Gast nun eigentlich hübsch, zu schlank, oder zu alt war. All dies sah man im Vergleich mit „unserer“ Primaballerina, oder „unseren“ Tänzerinnen, die man vor allem als „besser gebaut“ einstufte. Da man der Meinung war, Kschessinskaja strebe die Position der amtierenden Primaballerina Sironi an, wurde das Geschehen rauer. Anlässlich eines gemischten Abends, in dem die Kschessinskaja in „Puppenfee“ und „Wiener Walzer“ verschiedene eingelegte Nummern tanzte, aber auch Sironi in „Sonne und Erde“ auftrat, kam es zu lautstarken Pro-Sironi-Kundgebungen, die von der Kschessinskaja, aber auch von der Hofoperndirektion mit Befremden aufgenommen wurden.
An auftrittsfreien Abenden fand sich die Ballerina in weißer Tüllrobe mit mauve Flitter sowie Brillant-Smaragd-Schmuck am Concordiaball ein, oder wohnte einer Vorstellung der „Tanz-Idyllen“ der Duncan bei. Am 3. April fand Kschessinskajas Gastspiel mit „Excelsior“ ein umjubeltes Ende. Ein künstlerischer Höhepunkt, der eingelegte Pas de deux „Valse caprice“ zu Musik von Anton Rubinstein in der Choreografie von Legat, mit dem die Kschessinskaja auch tanzte, blieb unbesprochen. Der Abend wurde durch die „Inkognito-Anwesenheit“ des Kaisers ausgezeichnet, der, wie betont wurde, den ganzen Abend hindurch blieb. Bei dem das Ballett abschließenden Fahnenmarsch kam es zu einer spontanen Huldigung an den Kaiser. Man sprang von den Sitzen auf und jubelte, der Kaiser nahm diese Huldigung mit einer Neigung des Kopfes entgegen. Die Kschessinskaja wusste, wie man einem Herrscher zu danken hatte.
Zu behaupten, die zweite Auftrittsserie der Kschessinskaja in Wien Ende Februar/Anfang März 1912 sei von der Presse vollkommen ignoriert worden, wäre wohl etwas übertrieben, Tatsache jedoch ist, dass ihr mitgebrachter „millionenschwerer“ Schmuck eingehendere Erwähnung fand als ihre Auftritte, die immerhin von einiger Bedeutung waren. Ein Grund für die weitgehende Ignoranz der Wiener Blätter war wohl, dass die Ballerina nicht als Einzelperson, sondern im Verband der Ballets Russes in der Hofoper tanzte, was wiederum für die Wiener Presse insofern Schwierigkeiten mit sich brachte, weil sie nicht wusste, wie über das unzweifelhaft „seriöse“ Unternehmen zu schreiben war. (Es war unter anderen Hugo von Hofmannsthal, der dann die Linie vorgab.) Kschessinskaja tanzte – immer mit Wazlaw Nijinski als Partner – bedeutende Partien: Odette/Odile in „Schwanensee“, dazu die Titelrolle in „Pavillon d’Armide“, Columbine in „Carnaval“ und – als Rollendebüt – das Mädchen in „Spectre de la rose“. Keiner der Schreiber bemerkte, dass die Kschessinskaja – die einmal mehr ihre technische Brillanz darbot – im Ensemble der Ballets Russes ein Fremdkörper war, der einer nunmehr überkommenen Ästhetik angehörte.
Prinzessin im Exil – Posthumer Komponistenruhm
Während die Ballets Russes ihren Aktionsradius ganz ins Ausland verlegten, blieb die Kschessinskaja in ihrer Heimat, solang das Zarenreich bestand. Sie ließ sich von den Schrecken der Revolution nicht beeindrucken und führte sogar gegen Lenin einen Prozess, der ihr Palais beschlagnahmt hatte, um hier sein Hauptquartier aufzuschlagen. (Heute ist es der Sitz des Staatlichen Museums für die politische Geschichte Russlands.) Zusammen mit ihrem späteren Ehemann, dem Großfürsten Andrei Wladimirowitsch, und dessen Familie floh die Ballerina schließlich und ließ sich zuerst an der Côte d’Azur, dann in Paris nieder. Die von 1929 bis 1964 existierende Ballettschule der nunmehr den Titel einer Prinzessin Romanowski-Krassinski tragenden Kschessinskaja war Pilgerort für Tänzerinnen aus aller Welt, darunter die Wiener Solotänzerin Erika Zlocha. Die einstige Primaballerina assoluta der Kaiserlichen Theater starb 99-jährig am 6. Dezember 1971 in Paris.
Dass Minkus 1917 starb, also in jenem Jahr, als in Russland die alte Ordnung, der er angehört hatte, völlig vernichtet wurde, scheint rückblickend gesehen folgerichtig. Für ihn – so schien es – war in der neuen Welt kein Platz mehr. Dass sein Werk 100 Jahre später, weltweit gesehen, Allgemeingut sein würde, hätte 1917 niemand vorauszusagen gewagt. Aufschlussreich schließlich, was Fürst Wolkonski in seinen Memoiren zu den Geschehnissen um die Kschessinskaja zu sagen hatte. Anknüpfend an die Krinolinen-Affäre zog er das Kleidungsstück für eine Metapher heran: Krinolinen seien etwas Unsichtbares, das den äußeren Schein unterstützt, „etwas Hohles, das den Eindruck von Üppigkeit erweckt.“ Wolkonski mochte dabei an das hohl gewordene, nunmehr zusammengebrochene Gerüst der Monarchie gedacht haben. Im Fall der Kschessinskaja kann „Üppigkeit“ als Virtuosität um ihrer selbst willen ausgelegt werden. Sowohl die Ballets Russes als auch der neue Tanz hatten mit Krinolinen solcher Art nichts mehr zu tun.