„Mirage [something illusory]“ heißt die neueste Kreation von Nadja Puttner, die als Gastspiel im Off-Theater Wien zu sehen war. Vier TänzerInnen und vier Musiker untersuchen in diesem Tanz-, Sprech- und Musik-Theaterstück, was das plötzliche kommunikationstechnologische und physische Abgeschnitten-Sein von der Außenwelt durch das dadurch „Auf das Jetzt Geworfene“ mit den Akteuren macht.
Zwei nach hinten zusammen laufende Wände aus hellem Schaumstoff und vier weiße Holz-Quader als Hocker bilden den imaginären Warteraum, in dem sich die vier ProtagonistInnen einrichten. Der eine liest Zeitung und telefoniert, die andere kramt geräuschvoll in ihren vielen Taschen, einer surft am Handy. Eine Frau bittet diesen, mit seinem Handy telefonieren zu dürfen. Ablehnung. Und plötzlich fällt das Netz aus. Es entsteht eine Not-Gemeinschaft aus vier sehr verschiedenen Charakteren, vom selbstgefälligen Anzugträger bis zur regredierenden, nach Papa rufenden jungen Frau, von der Dame im Kleinen Schwarzen bis zum indifferenten Casual. Irgendwo zwischen Selbstgerechtigkeit und Angst, zwischen dem Willen zur Macht und dem Wunsch, endlich wahrgenommen zu werden changieren die Prädispositionen.
Und dann? Sie schieben die Wände auseinander wie sie den Blick weiten für das Innerste. Sie zerlegen die Mauern wie sie die Seelen sezieren und Begierden, Triebe, Sehnsüchte und eingebrannte Muster freilegen.
Das von Geraldine Massing entworfene Bühnenbild, sie zeichnet auch für die Kostüme verantwortlich, gibt mit seiner immensen Flexibilität den physischen Rahmen für die Fülle an Themen. Aus den vielen Einzelteilen der Wände bauen sie ein Stehpult, einen Schreibtisch, Sessel und einen Schutzraum. Die Lichtregie des Off-Theaters setzt die Aktionen und Akteure gezielt in Szene. Einer hält eine Ansprache, eine will ins Fernsehen, die andere verkriecht sich. Edoardo Blandamura komponierte und arrangierte die Musik, auch unter Einbindung einiger Standards für Klavier, Kontrabass, Cello und Klarinette/Saxophon, die spektral ungemein breit angelegt auf ihre Weise die inhaltliche Vielfalt dieser Arbeit repräsentiert. Nadja Puttner, Mara Kluhs, Lukasz Czapski und Sebastijan Geč tanzen Swing, Tango, Jazz, Modern, Flamenco und Breakdance, als Soli, Duette und Quartette. Sie sprechen deutsch, englisch, slowenisch und polnisch. Und aus dem zwischenzeitlich geschaffenen Schaumstoffteile-Chaos wird wieder Struktur.
Mara Kluhs, für mich eine Entdeckung wegen ihrer Ausdrucksstärke schon im Kleinen und ihrer Bühnenpräsenz, tanzt ein Solo und spricht dabei vom kalten, schmerzenden Nebel, der ihr zu einem Zu Hause geworden ist, der sie beschützt und betäubt. Sie hat vergessen, sich lebendig zu fühlen. Und sie spürt sich kaum.
Eine Stimme aus dem Off erzählt von einer Reise in ein entlegenes Dorf in Brasilien, in einen Dschungel aus Koka und Holz. Verderben und kollektiver Mord, aber auch Harmonie und Segen. „Wir sind zu egozentrisch, um das Ganze zu verstehen.“ Und er flucht …
Nach der Pause gibt es Slapstick mit Nummern-Girl. Und einen Catwalk, mit Vorsingen. Machtgeile „Juroren“ beurteilen jede Einzelheit des Körpers dieser armen Kandidatin. Selbst gesuchte Entwürdigung. Zu einem Klavier-Solo tanzt Nadja Puttner eine gebrochene Frau. Ein starker Moment. Und widmet sich dann der Selbst-Beschau. „Das Bild und das Echte, was ist das wert? Kann man den Tod aufhalten?“ Sie hat Sehnsucht nach jemandem, der sie wirklich sieht.
Nadja Puttner und Mara Kluhs erzählen zum Ende hin das Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ der Brüder Grimm. Eine Parabel auf die unersättliche Gier. Sie tanzen ein Quartett, das in Synchronizität mündet und diese dann wieder aufgibt. Sie bauen die zwei Mauern wieder auf, jetzt in rot. Lebendigkeit im Innern. Dabei plaudern sie miteinander, fast so, als wären wir nicht da. Und sie schmiegen sich, wie ganz am Anfang, an die Wände. Das Licht verlischt.
„Mirage“ schaut nicht nur auf die Urgründe menschlichen Seins, sondern auch auf dessen Wirkungen im Außen. Nadja Puttner hat eine komplexe Analyse des modernen Menschen kreiert, die nur im ersten Moment wie eine Aneinanderreihung von Sequenzen daherkommt. Die Gesamtschau ergibt eine runde, gelungene Choreografie, die tänzerisch, darstellerisch und musikalisch überzeugt.
„Mirage [something illusory]“ von Nadja Puttner; vom 28. Februar bis 2. März im Off-Theater Wien.