Pin It

Ihsane2Wenn Sidi Larbi Cherkaoui nach seinen Wurzeln forscht, kommen zwei Welten zu Tage: In “Vlaemsch” ging er dem flämischen Erbe seiner Mutter nach (tanz.at berichtet), nun folgt er in “Ihsane” den Spuren seines marokkanischen Vaters. Das Ergebnis ist eine kulturübergreifende, zutiefst humanitäre Botschaft, die in nahezu mystischer Schönheit das Verbindende über das Trennende stellt.

“Ihsane” bezeichnet im Arabischen Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit. Es ist auch der Vorname eines homosxuellen Mannes aus Marokko, der in Belgien von vier homophoben Männern ermordet wurde. Diese Informationen stecken den Ausgangsrahmen für die Inszenierung ab. 

Dabei beginnt es didaktisch. Wir sind Teil einer Arabisch-Stunde, in der auch das Publikum aufgefordert wird, die Worte nachzusprechen. Es ist eine Aufforderung eine Welt kennenzulernen, die sich in den nächsten 90 Minuten in geheimnisvollen, bewegten Bildern, mit hinreißender Musik von Jasser Haj Youssef, in einem großartigen Bühnenbild von Armine Amharech mit Referenzen zur arabischen und islamischen Kultur entfaltet, die hier, stilistische überhöht und verfremdet, universelle Gültigkeit erfährt. Ebenso wie in den Kostümen von Amine Bendriouich, die auf Grundlage von hautfarbenen mit orientalischen Mustern verziehrten Trikots immer wieder Anklänge an die nordafrikanische Folklore widerspiegeln. All das wird in der wunderbaren Lichtregie von Fabiana Piccioli zu einer wundersamen Reise durch das Reich von 1001 Nacht.

Die Szene, in der die Misshandlung und der Mord an Ihsane dargestellt wird, löst ein Gefühlsspektrum zwischen Trauer, Versöhnung, Liebe und Hoffnung aus, das sich in 90 Minuten in einer Choreografie, mal zart, mal brutal, meist aber vereinend und harmonisch entfaltet, wunderbar getanzt von 19 Tänzer*innen des Ballet du Grand Théatre de Genève und Cherkaouis Compagnie Eastman.Ihsane3roe

Wenn die Tänzer*innen sprechen, tun sie das in dem für Cherkaoui typischen “Tanzsprech”, in dem Worte und Gesten zu einer eigenen Einheit verschmelzen. Sie schreiben arabische Schriftzeichen auf Stellwände, später werden dort Dokumente und Fotos von Cherkaouis Vater projiziert. Oder die eindrucksvollen Videos von Maxine Guislain, die den Tod in Bildern von Tierkadavern in der Wüste oder von Schlachtungen thematisiert, nachdem sie zuvor niedliche Ziegen in Großaufnahme gezeigt hat und am Ende den Blick auf menschliche Augen wirft.

Ihsane choreography by Sidi Larbi CherkaouiIn der Formensprache des Ausnahmekünstlers Sidi Larbi Cherkaoui offenbart sich eine Bandbreite von Eigenschaften, die seine Identität definieren und bei dieser steht seine Berufung als Tänzer, Choreograf, Regisseur und Künstler wohl an erster Stelle. 

Er versteht es wie kein Anderer kulturelle Prägungen aufzugreifen ohne Klischees zu bedienen. Und doch darf es auch hin und wieder Anklänge an Kitsch und Pathos geben – und es sind diese Bilder, die uns das Geschehen ganz nahe bringen. Ihsane3roe

Gegen Ende senkt sich ein quaderförmiges Objekt auf die Bühne, zuerst dunkel wie die Kabaa, wird es allmälich von innen beleuchtet. Ihsane wird darin zu Grabe getragen und bei seinem Aufstieg regnet es warmen Sand auf die Körper der Tänzer*innen. Im Zuschauerraum breitet sich ein Gefühl der Geborgenheit aus, die Cherkaoui mit der Poesie seines zutiefst humanen und versöhnenden Meisterwerks auszulösen weiß. So geht es eben auch! Wie wohltuend in einer Zeit, die sich vorwiegend über Spaltung, Konflikte und Gemeinheiten definiert.

Sidi Larbi Cherkaoui. Ballet du Grand Théâtre de Genève. Eastman: “Ishane” am 24. Jänner im Festspielhaus St. Pölten

Ihsane choreography by Sidi Larbi Cherkaoui