Anlässlich des Films und der DVD „Mr. Gaga“ von Tomer Heymann bringen wir einen Artikel aus der Zeitschrift tanzAffiche vom November 1997 über Ohad Naharin. In diesem Text versucht die Autorin Gaby Aldor die Persönlichkeit des israelischen Choreografen einzufangen – kein einfaches Unterfangen. Das Ergebnis ist jedoch, ebenso wie der Film, eine poetische Annäherung an den eigenwilligen Künstler.
Mein Gespräch mit Ohad Naharin war privater Natur, geschah nicht in der Absicht, endgültige Antworten zu finden oder die Dinge ein für allemal zusammenzufassen. Wir saßen in einem Restaurant in der Nähe seiner Tel Aviver Wohnung, nach einem Auftritt seiner Kompanie in einem öffentlichen Park. Das Amphitheater im Hayarkon Park ist ein schöner Platz zum Tanzen. Die Bühne ist von hohen Bäumen umgeben, aber der Tau, der den Bühnenboden näßt, erschwert die Aufgabe der Tänzer. Ein blaßer Nebel liegt über den dunklen Rasenflächen, die das Theater umgeben.
Ich fragte Ohad was er am meisten liebt, am meisten haßt, und so weiter. Naharin: „ Ich denke nicht in Kategorien von ‘meist’ irgendetwas. Nicht weil ich auf der Hut bin, ich weiß wirklich nicht, was ‘meist’ für mich ist.“ Und weiter: „Ich lag im leicht feuchten Gras im Park und las ein Buch, Ameisen krabbelten überall auf mir herum, ich fühlte mich high und fragte mich, warum ich das nicht öfter machte?“
Während der Vorstellungen im Park ist Ohad immer anwesend, beobachtend, zusehend, arbeitend. Jedes Detail interessiert ihn. Hinter der Bühne herrscht eine gute, sachliche und ruhige Atmosphäre. Das Leben eines Tänzers - mehr noch als das anderer Künstler - ist maßvoll, hart und beschwerlich. Kleine, schwitzende Figuren verschwinden nach dem letzten Blackout in den Umkleideräumen. Noch schmaler wirken sie, wenn sie letztendlich in der dunklen Nacht verschwinden um heimzugehen. Es ist ihnen eine gewisse bescheidene Ernsthaftigkeit zu eigen.
Ohad hält sich sehr gerade, was ihn stolz erscheinen läßt. Aber das wäre eine Fehlinterpretation seiner Haltung, die in Wirklichkeit von einer Rückenverletzung herrührt. Vielleicht gibt es da noch einen weiteren Aspekt seiner resoluten Aufrichtung: den der Einsamkeit, der Isoliertheit, der Besonderheit, ob nun im guten oder bösen.
Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich meine Stimme auf Ohads Wellenlänge einzustellen, die üblichen Gemeinplätze und Selbstverständlichkeiten zu vermeiden vermochte, um jenen Grad der Kommunikation zu erreichen, wo auf „Culture Junk“ verzichtet werden kann. „Wenn ich über irgendetwas rede, nicht unbedingt über mich selbst, so geht es immer noch um mich,“ meint Ohad. So sprachen wir über die Vorstellung, die wir zuvor gesehen hatten, über die Tänzer, wie sehr er sie liebt und schätzt und über ihre besonderen Qualitäten. Er betrachtet jeden seiner Tänzer als Einzelpersönlichkeit, als ganzheitliches menschliches Wesen mit speziellen Gaben und Mängeln, die alle zusammen die Tänzerpersönlichkeit formen.
Über Yossi Jungman, einen wunderbaren Tänzer, konstatiert Ohad: „Eine seiner Qualitäten ist, daß er überhaupt nicht musikalisch ist.“ Ich staunte. Und Ohad meinte nur kurz: „Er ist so ehrlich.“ Und ich erkläre mir diese Aussage so, daß nicht einmal Musik ihn verführen oder beeinflußen kann. Er hat Wege gefunden, seine Schwäche zu überwinden.
Ohad ist kurz davor, eine Reise nach Finnland anzutreten, um sein Stück „Perpetuum“ auf die Bühne des Nationalballetts zu bringen, eine Arbeit, die in Israel nur wenige Male zu sehen war. Es ist Frühsommer und in Finnland herrscht endloses Tageslicht mit nur einer Stunde Dämmerung am Tag. Die Manager der Kompanie suchen nach einem Hotel mit Spezialblenden, damit die Räume zum Schlafen genügend verdunkelt werden können. Es scheint, daß die besondere Beziehung der Finnen zu Dunkelheit und Licht für Ohad eine Herausforderung darstellt.
Die finnische Kompanie ist in klassischem Ballett ausgebildet. Ohad: „Ballett zu tanzen ist für den Tänzer eine körperliche Befriedigung, die ein Gefühl des Überwindens von Hindernissen beinhaltet. Tänzern des klassischen Balletts zu erklären, daß sie ‘falsch’ tanzen sollen, sie dazu zu bringen, sich zu bewegen, eröffnet ihnen neue Möglichkeiten im Umgang mit sich selbst.“
„Aber wie löst man das Problem, einem klassischen Tänzer erklären zu müssen, daß er sich auf neue Art bewegen muß?“
„Ich versuche, eine Verbindung mit der Gegenwart herzustellen, nach Verlassen des Proberaums, nach den Tanzstunden, wenn sie Blue Jeans tragen. Dieser Ansatz vereinfacht die Dinge und der Übergang dauert eine Woche anstatt zwei Jahre. Und sie lieben den Tango...“
Ohad meint, er habe Glück, sich frei entscheiden, seine Entscheidungen nach seinem Gutdünken ändern und den gegenteiligen Standpunkt einnehmen zu können. „Weisheit geht über bloßes Wissen hinaus“, sagt er und beginnt über Einsichten zu sprechen, diesmal aber in einem anderen Zusammenhang, der Musik von Arvo Pärt, die er oft verwendet. „Wenn ich etwas Neues lerne, halte ich nicht an früheren Überzeugungen fest. Es ist alles eine Frage der Erneuerung.“
Er liest derzeit Gedichte von Joseph Brodsky, in einem davon heißt es: „Jede Entscheidung ist eine Art Befreiungsschlag.“
Als ich Ohad noch einmal frage, was er am meisten liebt, wiederholt er: es gäbe kein ‘meist’ für ihn, vielleicht, weil er kein gutes Gedächtnis besitzt. Und er erzählte eine lustige Geschichte von einem Freund, einem Maler, der am liebsten Kühe malt. Fast vierzig Jahre lang reiste er von Land zu Land, um englische, spanische oder schwedische Kühe zu malen.
Was aber haßt er? „Ich verabscheue das Böse, auch das, was in mir selbst steckt.“ Und er erläuterte, was in seinen Augen das teuflisch Böse ist: die Identifikation mit Ideologien, die Erzeugung einer Massenidentität, militantes Verhalten, Doktrinen und unbedingter Gehorsam. „Das Böse erschreckt uns, weil es oft triumphiert und all diese Dinge stehen in krassem Gegensatz zu kreativem Denken.“
Unser Gespräch wendet sich wieder der Freiheit zu, dem Lyriker Brodsky und der immerwährenden Wechselwirkung von Lernen und Wandel. Ohad sagt unvermittelt, wirklich wichtig sei ihm die Fähigkeit zu vergeben und aufzugeben. „Das findet man in Gedichten“, meint er. „Gedichte sind ein wenig wie Gebete, und Gebete beschäftigen sich mit Vergebung und das ist ihre wahre Aufgabe: die andere Wange hinzuhalten.“
Ich fragte ihn nach seinem Tanz „Arbos“ zur Musik von Arvo Pärt, eine Arbeit, die für mich religiösen Charakter hat, mit einer Musik wie einer unvollendeten Kathedrale. Ohad antwortete: „’Arbos’ ist für mich humanistisch und die Musik sehe ich mehr als dünnen Faden, der die Dinge verbindet denn als großes Gebäude. Ein Faden, der zu Orten führt, die zu groß sind, als daß ich sie erklären könnte, ein Ort wo die Weisheit Gott ist und ich im Vergleich dazu nichts.“
Wir sprachen über jenen Teil von „Arbos“, in dem Yossi Jungman mit einem Hamster tanzt, eine Szene über die Abtötung des Fleisches. „Die Bewegung geht vom Hamster aus. Ich möchte daß die Tänzer jene Virtuosität erreichen, die ein integrierter Bestandteil ihres Verhaltens wird und das ist die Verbindung zum Hamster. Ich experimentierte mit Tieren, ließ sie über meinen Körper krabbeln und so kam ich schließlich auf den Hamster“, erklärt Ohad.
Naharins Tänze verwandeln sich ständig. Bei jeder Aufführung von „Black Milk“, „Kyr“ oder „Queens of Golub“ liegt das Hauptaugenmerk auf einem anderen Aspekt, erkennt man die Verfeinerung. „Das ist einer der Vorteile der Arbeit in diesem Medium“, sagt Ohad. „Die Dynamik, die Möglichkeiten der Veränderung. Bewegung ist Erinnerung, es gibt keinen Tanz ohne Erinnerung. Tanz hört mit Ende der Aufführung zu existieren auf. Deswegen höre ich nie auf, etwas zu ändern, weil ich nie wirklich zufrieden bin.“
Und er fügt plötzlich lächelnd hinzu: „‚Kyr’ wird alt, weißt du. Aber das ist nett. Jemand schrieb einmal darüber und nannte es ‚Kyr’ (hebräisch: Wand) mit Rissen, vielleicht ohne es so zu meinen, aber jetzt paßt es zu der Situation und das ist gut. Arbeit neigt dazu, mit den Jahren besser zu werden, wie Wein.“
Wir sprachen über Quellen der Inspiration. „Gedichte, die Art wie sich Menschen bewegen, wie sie leben, Bilder von Miro. Meine Tänze gleichen Gedichten, es gibt Choreographen, deren Tänze Prosa sind. Ich liebe Gedichte, weil ein Dichter gezwungen ist, sein Material auf das Wesentliche zu reduzieren und zu konzentrieren.“
Ohad erzählt die Geschichte eines Kindes, das er einmal bei einem Empfang sah. Das Kind trug zwei Weingläser in seinen Händen, vielleicht um sie seinen Eltern zu bringen. Ein Glas war voller als das andere, und das Kind schüttete fortwährend von einem Glas in das andere, um ihre Inhalte anzugleichen. Leerte ein wenig, besah sich das Resultat und leerte ein wenig Wein zurück, bis es zufrieden war.
Die vielen Linien in Ohads Gesicht verändern sich ständig. Giacometti schrieb einmal: „Es ist ein Abenteuer, ein großes Abenteuer, beobachten zu können, wie in einem Gesicht jeden Tag etwas Unvorhergesehenes geschieht. Das ist besser als alle Reisen um die Welt.“
Spät an jenem Abend, als die Kellner ruhig an ihrem Tisch in der Ecke saßen, sagte Ohad plötzlich, daß er es mag, mit Kälte, menschlicher Kühle in Berührung zu kommen. Daß in ein lauwarmes Bad getaucht wirklich einfallsreicher und kreativer ist. Einfach im Wasser zu liegen ohne sich zu bewegen, dann flögen ihm die Ideen zu, gingen durch ihn hindurch, als ob er ein Medium wäre.
„Bist du traurig?“ Er lachte: „Ja, total traurig.“ „Arbos“ ist der Ort zwischen Himmel und Hölle, eine Art Durchgang. Der Titel zu „Black Milk“ entstand als Ohad ein Straßenschild beim Festival of Two Worlds in Spoleto in Italien sah, daß für ihn wie Latte Nero, Schwarze Milch aussah, was er für einen guten Titel hielt. Es stellte sich heraus, daß das Schild eine ganz andere Bedeutung hatte.
„Queens of Golub“ war ursprünglich ein Solo für Ohad und trug den Titel „King of Golub“. Der Name ist ein Spitzname für einen engen Freund. Es ist ein Titel, der ein Geheimnis in sich birgt. Ohad kritzelt in mein Notizbuch, um zu sehen wie das Wort „vitur“ (im Hebräischen: etwas aufgeben) geschrieben aussieht, in hebräischen und auch in lateinischen Buchstaben. Er mag den Klang und das Aussehen, es könnte also möglicherweise der Titel seiner nächsten Arbeit werden. „Aufgeben“ - ein selten benutztes Wort in unseren zornigen Zeiten. Als ob man plötzlich frei atmen könnte.
Am darauffolgenden Tag machten wir einen Spaziergang durch die vielen kleinen Straßen rund um das Suzanne Dellal Center. Wir sahen uns ein verfallenes Gebäude an, das einmal ein elegantes Cafehaus beherbergt hatte, mit Musik und Tanz, und nun auf seine Renovierung wartete. Es war als Proberaum für Batsheva gedacht, aber noch fehlten die finanziellen Mittel für den Umbau. „Ich brauche einen Ort, um zu tanzen“, sagt Ohad. „Egal, wie dieser Ort aussieht.“ Wir standen gegenüber dem Armeemuseum, einer riesigen Fläche, wo wir rostige alte Panzer aus dem Unabhängigkeitskrieg und verschiedene große, verschlossene Gebäude sehen konnten. Jemand erzählte uns, es handelte sich dabei um vierzig Dunams Land. „Alles was ich für die Kompanie brauche, sind zwei Dunams Bodenfläche“, sagt Ohad.
Es gibt Menschen, die plötzlich stehenbleiben oder in ihrer Rede innehalten und es bleibt eine Art Nachklang. Der Körper bewegt sich weiter, aber es scheint, als ob der Kopf noch zurückblickt. Ohad bewegt sich von einem Ort zum anderen, von einem Satz zum nächsten, ohne innezuhalten, als ganzes, alles von ihm auf einmal. In den Bildern Giacomettis gibt es viele Linien, die sich kreuzen, aber doch einzigartig sind. Jedesmal wenn man sie betrachtet, scheinen sie frisch, als sehe man sie das erste Mal. Das kam mir in den Sinn, als wir uns voneinander verabschiedeten und Ohad abrupt verschwand, alles von ihm, ohne Spuren zu hinterlassen.
Einige Zeit ist seit diesem Treffen vergangen. In der Zwischenzeit schuf Naharin neue Werke, „Z/na“ und „Yag“, die sich sehr voneinander unterscheiden. Beide sind auch sehr verschieden von „Anaphase“, das ein farbenfroher Augenschmaus voller Licht und Wärme war. „Z/na“ ist ein Manifest des Schmerzes. Es ist von großen Dimensionen, aber anarchistisch, eine Arbeit, die Ordnung und Struktur hinter sich läßt, nicht um Freude zu machen, sondern um Aufmerksamkeit einzufordern, zu mobilisieren und Alarm zu schlagen.
Im Gegensatz dazu beschäftigt sich „Yag“ mit dem Loslassen, wie die Kritzeleien von Ohad in meinem Notizbuch. Es geht darum, nicht hartnäckig zu sein. Es handelt von einer Familie, die den Tanz einmal sehr, sehr, sehr geliebt hatte, aber diese Liebe zum Tanz wird kleiner, so wie auch die Bewegungen verebben.
Für diese Vorstellung werden die Zuseher durch die Umkleideräume der Tänzer ins Auditorium geleitet und müssen von der Bühne zu ihren Sitzen klettern. Auf diese Weise lädt uns Naharin ein, zum Inneren seiner Arbeit vorzustoßen und verwandelt uns alle - für wenige Minuten - in mögliche Tänzer. In Menschen, die von anderen Menschen angestarrt werden.
In „Anaphase“ versuchte uns Naharin ebenfalls davon zu überzeugen, loszulassen, zu lieben. Er holte Zuseher auf die Bühne, um mit den Tänzern zu tanzen. Als ob jeder von uns das Recht hätte, für einen gnadenvollen Moment auf der Bühne zu sein, selbst wenn wir nicht zum Tanzen geboren sind.
Nach unserem damaligen Gespräch trafen wir uns und sprachen wieder über Gedichte, über das Kochen und über seine Familie. Wir aßen Wurzelgemüse, das er zubereitet hatte und Knoblauch, viel frischen Knoblauch mit Tomatenscheiben. Ein interessanter und erfrischender Geschmack - wie Ohad sagte - und Hühnchen in Wein gekocht mit Gemüse, Reste eines Essens, das er für Freunde gegeben hatte. Er kocht gerne, erfindet Rezepte und ist immer auf der Suche nach neuen Geschmackserlebnissen.
An dem heißen Sommertag ist es kühl in seinem geräumigen, fast leeren Appartement. Er bringt mir bei, mich wieder zu bewegen nach einer Rückenverletzung, die ich erlitten hatte. Sein Hund, Duba, gesellt sich zu uns. Rückenschmerzen sind seine Spezialität. Er selbst litt unter Rückenproblemen. Die Gabe zu heilen ist eine andere seiner Fähigkeiten, heilen durch tanzen, tanzen ohne sich anzustrengen, ein beinahe innerer Tanz. Tanz der keine Gesetze hat, keinen Zweck (Ziel, Absicht). Nach einer Stunde bin ich das erste Mal seit Monaten in der Lage, mich ohne Schmerzen zu bewegen. Der Schmerz ist da, aber er lauert zusammengekauert in einer Ecke, besiegt.
Gerne würde er anderen seinen heilenden Tanz vermitteln. In der Stadt Nathania arbeitete er mit Fußballspielern. Zuerst lachten sie, hörten aber schnell damit auf und fanden Gefallen an der neuen Art der Bewegung. So beginnen auch seine Tänzer den Tag.
Nach dem Heilungstanz - „Zwanzig Minuten pro Tag, morgens und abends“ - ist es Zeit für Knoblauch und Tomaten in der Küche. Und wenn ich nun darüber nachdenke, betrachte ich das Gespräch mit Ohad als eine Art Musik, ein Text, der uns begleitet, während wir durch die Straßen gehen, während wir essen, als ob das Zusammensein mit ihm fortdauern würde, ein innerer, ein müheloser Tanz, eine Heilungserfahrung.
Fotonachweis: Alle Fotos sind im Rahmen des Filmreleases von "Mr. Gaga" von Heymann Brothers Film freigegeben
Gaby Aldor ist Autorin des Buches über ihre Familiengeschichte "Wie tanzt nun ein Kamel?: Die Geschichte der Orenstein-Familie und die Erfindung des modernen israelischen Tanztheaters"