Ganz in der Tradition des romantischen Balletts oszilliert das Libretto von „Sylvia“ zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt hin und her. Die dabei auftauchenden transzendentalen Verwirrungen, die der irdischen Logik nicht standhalten, konnte und wollte Manuel Legris in seiner neuen Fassung für das Wiener Staatsballett nicht ausräumen. Dass das Ensemble mit Nikisha Fogo eine neue, hinreißende Erste Solistin hat, ist hingegen unbestritten.
Sylvia sollte als Nymphe der Diana gegen die Liebe immun sein. Schließlich hat sie sich an die Göttin der Jagd mit einem Keuschheitsgelübde gebunden. Nachdem Sylvia den sie heiß verehrenden Hirten Aminta mit einem Pfeil tötet, der eigentlich Eros gegolten hat, schlägt dieser zurück: Seine Statue wird lebendig und sein Pfeil landet im Herzen Sylvias. Das muss sie vor ihrer gestrengen Chefin, der Jagdgöttin Diana verheimlichen. Erst nachdem diese mit ihrem Gefolge abgezogen ist, kehrt sie zum leblosen Körper Amintas zurück – und wird dabei von Orion und seinen Satyrn gekidnappt. Während sie sich von ihren Entführern befreit, indem sie sie unter den Tisch säuft, hat Eros zur Freude seiner Freunde (Bäuerinnen und Bauern) Aminta wieder zum Leben erweckt, und bricht auf, um Sylvia abzuholen. Da muss sogar Diana einsehen, dass die Liebe stärker ist als ihre Unabhängigkeit. Ab nun wird sie als Göttin Luna nicht nur ihren einst von ihr getöteten Geliebten Endymion sondern alle Liebenden nachts beleuchten. Ach, wie schön!
Manuel Legris hat diese Handlung weitgehend akzeptiert. Er hat weder am Plot herumgedeutelt noch versucht die Wesen des Geisterreichs – Satyrn, Dryaden, Najaden, Jägerinnen, Baumgeister und Vestalinnen – akribisch zu unterscheiden. Und so ist die unfreiwillige Komik, die der Uraufführung 1867 an der Pariser Oper bescheinigt wurde, auch in der Wiener Fassung allgegenwärtig. Denn aus der Pastoraldichtung, die Torquato Tasso in einem fünfaktigen Hirtenspiel niedergeschrieben hat, lassen sich im wortlosen dreiaktigen Ballett keine überzeugenden Gefühlswelten erschließen.
Man kann diesen immanenten Humor natürlich auch thematisieren, wie es etwa Laszlo Seregi sehr erfolgreich in der zuletzt gezeigten „Sylvia“-Version an der Wiener Staatoper (1976) getan hat, indem er die Handlung zwischen Ballettsaal und Bühnenaufführung ansiedelte und damit geschickt die Handlungsstränge neu verband.
Doch Legris belässt das Ballett im 19. Jahrhundert, und wird dabei von Luisa Spinatelli mit einer antiquierten Ausstattung und Monia Torchia (Kostüme) tatkräftig unterstützt. Teilweise wirken die maßlosen Übertreibungen durchaus komisch, sind aber wahrscheinlich nicht ironisch intendiert: das Kostüm von Eros, der sich zuerst nur im neckischen Höschen präsentiert, im zweiten Akt mit lächerlichen Flügeln erscheint und im dritten Akt noch ein Flatter-Miniröckchen verpasst bekommt; der kitschig-bombastische, goldene Pegasus, auf dem Eros zur Rettung Sylvias einfliegt; der Riesenkelch, der im dritten Akt von den TänzerInnen auf die Bühne gebracht wird, noch bevor sie wissen, ob es überhaupt Grund zum Feiern gibt; Tücher, die das Gesicht der Jägerinnen im letzten Akt verhüllen (um, laut Programmheft, Aminta zu verwirren) und wie Feinstaubmasken aussehen. Die delikat aufeinander abgestimmten Farben der Naturgöttinnen verschwimmen im gedämpften Licht (Jacques Giovanangeli) des Zauberreichs der ersten beiden Akte, verlieren aber ihre Eleganz in der Helligkeit des Finales.
Die französische Tradition, auf die sich Legris beruft, bezieht er wohl in erster Linie auf das Tanzen, die Leichtigkeit, Eleganz und den Esprit der Pariser Schule. Gleich nach dem Prolog, in dem die Geschichte von Diana und Endymion thematisiert wird, kann die Zuschauerin also ganz entspannt die Choreografie als eine Abfolge von Divertissements genießen und ihre Aufmerksamkeit den wunderbaren TänzerInnen des Wiener Staatsballetts widmen. Die Satyrn und Baumgeister purzeln mit spielerischem Elan über die Bühne, die weiblichen Geisterwesen bestechen durch anmutige Variationen, die Jägerinnen stellen sich mit ihren Bogengeschützen als Hüterinnen der natürlichen Ordnung vor.
Sie alle bereiten das Terrain für die SolistInnen vor, die auf höchstem Niveau glänzen: Denys Cherevytchko als naiv Verliebter mit seiner unbestechlichen Technik und Bravour; Davide Dato mit seinem entschlossenen Bewegungsduktus in der Rolle des Bösewichts Orion; Mihail Sosnovschi, der mit seiner coolen Präzision dem Eros Autorität und Würde verleiht; Ketevan Papava und James Stephens, die als Diana und Endymion ein edles Paar abgeben: oder Sveva Gargiulo und Géraud Wielick, die mit ihrer fröhlichen Ausstrahlung als Bäuerin und Bauer besonders hervorstechen.
Nikisha Fogo, die in der Titelrolle ein Spektrum von fließender Lyrik (mit Aminta und Eros) bis zu aggressivem Selbstbewusstsein (in der Auseinandersetzung mit Orion) verkörpert, ist an diesem Abend ganz in ihrem Element. Seit ihrem Eintritt in das Wiener Ensemble 2013 hat die gebürtige Schwedin beharrlich an ihrem Aufstieg gearbeitet, wurde 2015 Halbsolistin und 2016 Solotänzerin. Als temperamentvolle, spritzige Tänzerin hat sie in diesen Jahren längst die Herzen des Publikums erobert, und wurde nun für ihre Leistung als „Sylvia“ begeistert bejubelt. Dass Staatsoper-Chef Dominique Meyer nach der Vorstellung persönlich auf die Bühne trat und coram publico ihr Avancement zur Ersten Solistin des Wiener Staatsballetts bekannt gab, ist wohl als besondere Ehrung und Anerkennung ihrer Arbeit zu werten.
Sie zum Abschluss zu nennen, soll sie keineswegs mindern: Die Musik von Leo Délibes, der es wohl zu schulden ist, dass dieses Ballett heute noch aufgeführt wird. Dass Tschaikowsky angesichts des „Sylvia“-Hörerlebnisses Selbstzweifel an seiner „Schwanensee“-Komposition bekam, erscheint zwar übertrieben, verdeutlicht aber den Stellenwert dieser musikalischen Ballettliteratur. Die Partitur eröffnet eine Vielfalt von Klangwelten, von Wagnerianischer Fülle bis hin zu zartester Lyrik. Kevin Rhodes und das Wiener Staatsopernorchester haben diese auf wunderbare Weise zum Klingen gebracht.
Im Zusammespiel von Musik und Tanz ist mit dieser „Sylvia“ also eine durchaus unterhaltsamer Abend gelungen. Manuel Legris hat nach seinem choreografischen Debut von „Le Corsaire“ sein Geschick für abendfüllende Inszenierungen erneut bewiesen. Dass er in beiden Balletten die Zeittreue zu den historischen Stoffen hält, mag auf „old school“ oder einen konservativen Geschmack zurückzuführen sein. Vielleicht schafft er sich damit aber auch seine eigene Retro-Marke.
Wiener Staatsballett „Sylvia“, Premiere am 10. November 2018 an der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 12., 13., 17., 24., 28. November 2018, 17., 19., 24., 26. Jänner 2019