Die Meister des 20. Jahrhunderts vereint an einem Abend beim Wiener Staatsballett: William Forsythe, der Balanchines Neoklassik verehrt und gleichzeitig aus dem Lot brachte; Hans van Manen, der mit Empathie und Humor auf menschliche Beziehungen schaut und Jiří Kylián, der einen fließenden Bewegungsmodus in Bilder von überwältigender Schönheit gießt.
Die erste Premiere des Abends ist eine auf 50 Minuten komprimierte Fassung des abendfüllenden Stückes „Artifact“ aus dem Jahr 1984. Die Langversion entwickelt sich entlang von Hauptpersonen, die auch sprechen und die strenge Klassik immer wieder mit „artfremden“ Aktionen durchbrechen. In der Bearbeitung "Artifact Suite" (2004 für das Scottish Ballet entstanden) ist nur die stumme „Other Woman“ übrig geblieben, die das Corps de ballet dirigiert.
Im ersten Teil zu einer Partita für Violine von Johann Sebastion Bach werden den geometrischen Formationen, mit denen das Ensemble die Bühne im aufrechten Stand oder im Liegen umrahmt, zwei Paare entgegengestellt, die die Strenge der Anordnung konterkarieren. Jakob Feyferlik und Nikisha Fogo sowie Nina Poláková und Roman Lazik loten mit äußerster Virtuosität die Grenzen ihres Bewegungsradius aus. Forsythe hat die neoklassische Sprache drastisch verändert und erweitert und die Körper aus ihrer Geradlinigkeit gelöst – Hüften sind verschoben, Beine ins Extrem gedehnt und gehoben, Körper nach hinten gebogen. Im zweiten Teil zur „Chaconne“ von Eva Crossman-Hecht erobert das Ensemble die Bühne. Die „Other Woman“ (Oxana Kiyanenko) leitet ihre Bewegungen mit militärischer Präzision, von eingigen Abweichungen mal abgesehen.
„Artifact Suite“ ist laut Forsythe eine Referenz an das klassische Ballett. Doch gleichzeitig ist es eine kritische Sicht auf seine Uniformität und Hierarchie. Denn Forsythe hat auch in der kürzeren Version nicht auf Störfaktoren verzichtet. Immer wieder knallt der Vorhang auf den Boden, während die TänzerInnen dahinter weiter agieren oder die Musik weiterspielt. Dann wiederum klatschen sie einfach zur Musik (zu Bach!). Einmal geht sogar das Saallicht an und nur eine leise Geräuschkulisse weist darauf hin: Das ist nicht das Ende. Immer wieder verhüllt Forsythe also Momente des Bühnengeschehens vor den ZuseherInnen. Kriegt das Publikum im Ballett denn wirklich die ganze Geschichte zu sehen? Werden die extremen Anforderungen, die Forsythe an seine TänzerInnen stellt, ausgeklammert? Mit diesen Publikumsirritationen eröffnet er jedenfalls eine interessante Perspektive auf eine Kunstform, die in ihrer abstrakten Form nicht einfach zu „lesen“ ist. Die genaue Einstudierung von Kathryn Bennetts, Maurice Causey und Noah Gelber brachte diese Dialektik in Forsythes Werk ausgezeichnet zur Geltung.
Für Hans van Manen hingegen ist der Tanz ein trefflicher Ausdruck für zwischenmenschliche Beziehungen. Die Beziehung des Paares in „Trois Gnossiennes“ (Einstudierung Igone de Jongh) ist verspielt, erotisch und kampfbereit. Die Frau ist auf Augenhöhe mit dem Mann und die Bewegungen beruhen auf gegenseitigen Gewichtsverlagerungen und Unterstützungen. Maria Yakovleva und Jakob Feyferlik tanzen einfach wunderbar, drei beim Klavier stehende Tänzern beobachten sie mit Argusaugen. Glaubt man anfangs noch, dass sie den Pas de deux stören werden, so wird ihre Aufgabe bald klar: Sie besteht darin, das Podest mit dem Instrument samt Pianistin über die Bühne zu ziehen. Laurene Lisovich, die einzige Musikerin dieses Abends, spielt, ungerührt von den räumlichen Veränderungen, Saties „Gnossiennes“ überaus stimmungsvoll.
Van Manens „Solo“ befindet sich bereits seit zwei Jahren im Repertoire des Wiener Staatsballetts und wurde an diesem Premierenabend wieder aufgenommen. Ebenfalls zu einer Bach Partita für Solovioline choreografiert, ist das Ballett für drei Männer ein Gegenpol zu Forsythes Ansatz. In „Solo“ konkurrieren drei Tänzer miteinander – heitere, unbeschwerte und großartige Tanzlust mit Denys Cherevychko, Richard Szabó und Géraud Wielick.
Den Abschluss bildete Jiří Kyliáns gleichnamige Choreografie zu Igor Strawinskis „Palmensymphonie“ aus dem Jahr 1978 (Einstudierung: Patrick C. Delcroix). Das hochästhetische Werk zu einem der wenigen sakralen Werke des Komponisten ist in sanfte Farbtöne getaucht, und die Ausstattung schafft einen rituellen Rahmen zwischen Folklore und Liturgie: die einfach gehaltenen Kostüme (Joop Stokovis), das Lichtdesign von Joop Caboort / Kees Tjebbes und das Bühnenbild von William Katz, das auf die Universalität von Religion verweist.
Die Teppichcollage im Bühnenhintergrund evozieren islamische Gebetsteppiche, die einfachen Holzstühlen mit hohen Lehnen katholische Betsessel und die Musik vertonte alttestamentarische Psalmen. Die Choreografie für acht Tänzerpaare ist eine achtsame und respektvolle Annäherung an den religiösen Background ohne direkt Bezug darauf zu nehmen. Die TänzerInnen des Wiener Staatsballetts bringen diesen Abend mit einer meditativen, transzendentalen Stimmung zum Abschluss.
Die Zeitreise durch die europäische Ballettmoderne im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bietet einen guten Einblick in die Entwicklung der Bewegungssprache, von Themen und deren Umsetzung seit Balanchine. Die harte Meisterschaft eines Forsythe steht hier dem auf Schwung und fließende Übergänge bedachtem Kylián gegenüber. Dazwischen steht Van Manen mit seinen (zwischen)menschlichen Tanzportraits.
Ein Programm, das die erweiterte Neoklassik mit gegenwärtigen Tendenzen verbindet, könnte diese Geschichte weiterschreiben. Die Stücke, die nun Eingang ins Repertoire des Wiener Staatsballetts gefunden haben, bieten sich jedenfalls für neue Kombinationsmöglichkeiten an.
Wiener Staatsballett "Forsythe | Van Manen | Kylián, Premiere am 14. April 2019 an der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 17., 20., 27. und 30. April.