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beforenightfall

Im etwa 80 Ballette umfassenden Werkverzeichnis von Nils Christe finden sich vorwiegend musikalische Kompositionen des 20. Jahrhunderts von Igor Strawinski bis Ludovico Einaudi. „Wenn ich diese Musik höre und die Augen schließe, sehe ich Bewegung“, erklärt der „Strawinski-Fan“ seine Vorliebe für die neuere Klassik. Am 12. Februar hat sein Ballett „Before Nightfall“ im dreiteiligen Programm „Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ an  der Wiener Staatsoper Premiere.

Von Kindheit an hat Nils Christe getanzt, zuerst folkloristisch. Sein Vater war Gründer des holländischen Volkstanzverbandes und hat in dieser Funktion immer wieder Lehrer aus Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn eingeladen. „Das war für mich ein fantastisches Training, vor allem in komplexen Rhythmen. Und als ich sechs war, schickten mich meine Eltern zum Ballett, damit ich ein richtiges Training bekomme.“

Doch dann entschied sich der musisch Begabte zuerst für ein Musikstudium in klassischer Gitarre und Blockflöte, das er allerdings abbrach, als er mit siebzehn Jahren einen Tänzervertrag beim Nederlands Dans Theatre bekam.

„Ich studierte Musik, Gitarre und Blockflöte“, erzählt er. „Die Aufnahmsprüfung ans Konservatorium habe ich sehr gut geschafft und da habe ich einen Brief an Hans van Manen geschrieben, ob ich beim Nederlands Dans Theater als Eleve trainieren könnte, denn meine Ballettlehererin war dort Ballettmeisterin. Ok, hat er gesagt, du kannst einmal die Woche bei uns das klassische Training machen, dann, nach einer Weile, hat er gesagt: du kannst jetzt zweimal die Woche kommen und während der Saison steigerte sich das und ich konnte jeden Tag mittrainieren. Nach den Sommerferien konnte ich mit Frans Brüggen, einem berühmten Dirigenten und einem Meister der Blockflöte, einen zweiwöchigen Masterkurs machen, aber es überschnitt sich eine Woche lang mit dem Beginn der Saison beim Nederlands Dans Theatre. Da rief die Ballettmeisterin meine Mutter an und fragte: ‚Wo ist Nils?’ Und meine Mutter sagte: ‚Nils konzentriert sich jetzt auf sein Musikstudium, weil er nicht sicher ist, dass er beim Nederlands Dans Theater einen Vertrag bekommen wird.’ Am nächsten Tag hatte ich einen Vertrag mit dem Nederlands Dans Theatre“, blieb dort fünfzehn Jahre, tanzte in über 80 Balletten und arbeitete mit 32 Choreografen, bevor er im Alter von 32 Jahren seine Tänzerkarriere zugunsten der Choreografie an den Nagel hing.

Doch gerade die musikalische Vorbildung nützt ihm bei der choreografischen Kreation: „Mit der Partitur entsteht die Struktur, bevor es ins Studio geht. Im Studio improvisiere ich dann und fülle die Struktur mit den Schritten.“

Für sein Ballett „Before Nightfall“ wählte Christe das  Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martinu. „Martinu hat das Konzert unmittelbar vor dem 2. Weltkrieg komponiert. Man spürt das Gefühl der Unsicherheit, dass man nicht weiß, was morgen passiert. Diese Untertöne sind sehr stark in der Musik präsent und ich denke, das ist auch im Stück sehr sichtbar. Das Gefühl, das ich von der Musik bekommen habe, ist, dass es von Menschen handelt, die nicht dominiert werden wollen. Besonders der erste und letzte Teil hat eine wahnsinnige Energie. Noch immer, wenn ich diese Musik höre, bekomme ich Gänsehaut, es ist ein beklemmendes Gefühl.“

„Before Nightfall“ sei sein Lieblingsballett, sagt der sympathische Choreograf. Auf Einladung von Rudolf Nurejev hat er es 1985 mit dem Pariser Opernballett kreiert. „Das war eine wahnsinnige Erfahrung, denn schon allein die Pariser Oper – das ist schon etwas, aber es war so inspirierend, denn ich hatte einen fabelhaften Cast: Sylvie Guillem, Laurent Hilaire, Manuel Legris, Elisabeth Platel, Charles Jude – herrlich. Das wurde ein großer Erfolg. Mit diesem Ballett ist mir der Durchbruch gelungen und es ist auch weltweit ein großer Erfolg geworden, Ich glaube, das Wiener Staatsballett ist die sechzehnte Compagnie, die es tanzt … Heute hat das in Wien seine Komik, denn Manuel war damals sehr kurz aus der Schule – auch die anderen waren sehr, sehr jung, alle Riesentalente – und er hat bei den drei Paaren getanzt und keine Solorollen gehabt.  Er war ja noch in der Gruppe. Wenn ich das hier erzähle, macht das Spaß, denn die Tänzer wundern sich: Manuel in der Gruppe, wieso?  … Musikalisch ist das Stück sehr schwierig, denn es ist hautnah an der Musik choreografiert. Es ist auch das technisch schwierigste Stück, das ich je gemacht habe, denn diese Tänzer in Paris waren so fabelhaft gut, das benützt man dann einfach.“

Im dreiteiligen Programm der Meisterwerke made in France stellt „Before Nightfall“  einen emotional starken Kontrast zu Serge Lifars (1905-1986) Hommage an das klassische Ballett „Suite en blanc“ zu Musik von Edouard Lalo und Roland Petits (1924-2011) choreografischer Umsetzung von des Romans „L’Arlésienne“ von Alphonse Daudet zu Musik von Georges Bizet dar.

Bestens erinnert sich Nils Christe noch an seine Arbeit mit den Tänzern und Tänzerinnen des Wiener Balletts, mit dem er 1982, am Anfang seiner Karriere als freischaffender Choreograf, sein Strawinski-Ballett „Und so weiter“ einstudierte und kennt sie alle noch beim Namen: Lilly Scheuermann, Marialuisa Jaska, Gabriele Haslinger, Heinz Heidenreich, Karl Ludwig und Christian Tichy.

Heute bedauert der Vielbeschäftigte, dass er nicht mehr Zeit hat, mit dem Wiener Staatsballett zu arbeiten, denn er attestiert ihnen ebenso wie dem Orchester (unter der Leitung von Markus Lehtinen) „Weltklasseniveau“, denn: „Manuel setzt einen Standard. Das ist Genuss für einen Choreografen mit solchen Tänzern zu arbeiten, sehr inspirierend.“  In Christes Ballett tanzen Ketevan Papava, Nina Poláková, Liudmila Konovalova, Eno Peci, Roman Lazik und Mihail Sosnovschi Solorollen.

Die Einstudierung der Choreografie besorgte seine Ehefrau Annegien Sneep, die ihre Tänzerkarriere ebenfalls beim Nederlands Dans Theatre begann. Heute studiert sie nicht nur die Werke ihres Mannes mit Ballettcompagnien auf der ganzen Welt ein. Für die Wiener Premiere hat sie „Before Nightfall“ mit neuen Kostümen ausgestattet, das Bühnenbild stammt von Thomas Rupert. Nils Christe kam nur für die Endproben nach Wien, musste vor der Premiere noch nach Arnheim zur Premiere seines „Sacre du Printemps“ bei Introdans, für den er übrigens noch einen Wunsch hat: „Ich hätte gerne eine Premiere mit meinem ‚Sacre du printemps’ am 29. Mai 2013, denn die Weltpremiere war am 29. Mai 1913 in Paris und ich habe vor ein paar Jahren einen ‚Sacre’ gemacht und der ist sehr gut gelungen und ich würde das gerne an diesem Tag bei einer Compagnie zur Premiere bringen.“ In Wien? „Das kann in Wien sein oder auch in Paris.“

Dass er sich erst 2007 mit dem Ballett Kiel über dieses Werk drüber traute, begründet er wie folgt: „Ich habe immer Zweifel gehabt, weil ich die Musik so gut kenne und ich Angst hatte, ob ich das schaffe. Ich habe so viele ‚Sacres’ gesehen und so viele sind schief gegangen. Erst vor ein paar Jahren habe ich mich getraut, irgendetwas hat sich in meinem Kopf umgeschaltet und hat gesagt: Mach es. Es ist wie eine choreografische Prüfung.“

„Ich nenne mich nicht mehr einen holländischen Choreografen. Ich arbeite soviel weltweit, dass ich international bin. Zum Glück“, sagt der 63-Jährige ohne Eitelkeit. Denn mit einer 40-prozentigen Kulturbudgetkürzung in den Niederlanden setzt auch in der vitalen Tanzszene ein Kahlschlag ein, der viele, vor allem unabhängige, moderne Compagnien, vor das Aus stellt. Niels Christes nächste Stationen aber lauten: Düsseldorf, Paris, Singapur, Buenos Aires, Australien und Toulouse.

„Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ an der Wiener Staatsoper, Premiere am 12. Februar, weitere Vorstellungen: 13., 19., 20., 23. Februar und 3. März 2012

Eine gekürzte Version des Artikels erschien am 11. Februar 2012 in der Tageszeitung Der Standard.

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