Man braucht die Theorie nicht zu kennen, um Wayne McGregors Arbeit zu schätzen. Und dennoch macht gerade der neurowissenschaftliche Zugang seine choreografische Sprache so spannend. McGregor ist fasziniert von den Mechanismen des menschlichen Gehirns und Körpers und kombiniert seinen künstlerischen Entdeckungsdrang mit Gehirnforschern, die seine künstlerischen Bewegungskonstrukte mit wissenschaftlichen Versuchsanordnungen begleiten. Gemeinsam wollen sie herausbekommen: Wie arbeitet das menschliche Gehirn?
Sie streckt den Körper und die Arme nach oben, da knicken die Knie zueinander ein, sie geht zu Boden und ist auch schon wieder auf den Beinen; sein Brustkorb verschiebt sich nach rechts, dann nach links, während sich die Beine in gegenläufiger Richtung ihren Weg nach vorne bahnen, an der Rampe abrupt drehen und die Verrückungen der Körperteile nun von hinten demonstrieren. Die Bewegungen der Random Dance Mitglieder scheinen den anatomischen Gegebenheiten zu widersprechen und stellenweise erinnern die TänzerInnen an Schlangenmenschen, die ihre Körper nach Belieben verbiegen und wieder zurechtrücken können. McGregors Tanzsprache ist voller Ecken und Kanten, voller Verzerrungen und „displacements“, die durch ein rasantes Tempo in einen unaufhörlichen Fluss versetzt werden.
Ausgangspunkt für seine letzte Choreografie „FAR“ war Roy Porters Buch „Flesh in the Age of Reason“ über die veränderte Wahrnehmung des Körpers im 18. Jahrhundert, als Gelehrte im Körper einen „untrennbaren Tanzpartner des Geistes oder der Seele – einmal im Gleichschritt, einmal als ein Durcheinander von Gliedmaßen und Absichten, gemischten Gefühlen“ zu sehen begannen.
Das Bühnenstück siedelt diese Auseinandersetzung mit aufklärerischen Ideen und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit (etwa auch mit Diderots Enzyklopädie der Wissenschaften, Künste und Gewerbe) in einem Zwischenbereich zwischen archaischem Ritual und High Tech an. Beim Eingangs-Pas de deux vor einer weißen Wand stehen vier Tänzer mit hoch lodernden Fackeln um das Paar herum. Mit ihren beinahe lyrischen Bewegungen scheinen sie einander zu entdecken, abzutasten, abzuwägen. Nicht zufällig denkt man an Kubricks „2010“.
Plötzlich erwacht die weiße Wand zu Leben und entpuppt sich als vielseitige Lichtinstallation, die die Bühnenaktionen mit immer anderen Mustern begleitet. Szene an Szene reiht sich in rapider Abfolge aneinander, nur selten von ruhigeren Passagen durchbrochen. Der wirkungsvolle Einstieg ruft sich erst am Ende wieder in Erinnerung, wenn eine Tänzerin wie leblos auf der Bühne liegen bleibt.
Während Ben Frosts vielschichtiger Klangteppich in dem einstündigen Stück eine zentrale dramaturgische Rolle erfüllt, ist die Lichtinstallation in ständig gleicher Intensität präsent. Zu oft lenkt sie die Aufmerksamkeit des Zusehers vom Tanz ab, induziert eine Überfrachtung an visuellen Informationen und schwächt dadurch den kinästhetischen Impact. Im Vergleich zu „Entity“, mit dem Random Dance im letzten Jahr im Festspielhaus St. Pölten gastierte, erreicht „FAR“ bei weitem nicht die zwingende Intensität der Vorgängerproduktion.
Dennoch bleibt die Begegnung mit Wayne McGregors Tanzsprache aufregend, da er ausschließlich mittels Bewegung neue kognitive Ebenen erschließt. Der Brite ist nicht von ungefähr einer der heißesten Choreografen der Gegenwart, dessen Werke mittlerweile im Repertoire der größten Ballettcompagnien (Royal Ballet London, Bolshoi Ballett, Pariser Opernballett, New York City Ballet) zu finden sind. 2012 wird er übrigens mit einem multimedialen Spektakel die Olympischen Spiele in London eröffnen. Look out!
Wayne McGregor | Random Dance FAR, 19. Februar 2011 im Festspielhaus St. Pölten