Eine Frau mit Fischschwanz und eine Frau mit Beinen, die sie nicht recht tragen wollen. Eine Frau, die sich in Spitzenschuhe zwängt und eine Frau, die bezaubernd tanzen kann. All dies ist die großartige Ballerina Silvia Azzoni in ihrer Rolle der Meerjungfrau, von John Neumeier frei nach Andersen choreographiert und nun in Hamburg wieder zu sehen.
Silva Azzoni, die diese Rolle schon in der Hamburger Premiere 2007 tanzte, besticht durch ihre anrührende Darstellung. Ihre Meerjungfrau ist versponnen und rätselhaft, linkisch und filigran zugleich. Sie ist ein echtes Märchenwesen, eine wunderschöne Phantasiefigur.
Nachdem John Neumeiers 2005 für das Königlich-Dänische Ballett kreierte Fassung des Stückes vor seiner Premiere in Hamburg noch einmal gründlich überarbeitet worden war, zeigt sich die Inszenierung nun in der Wiederaufnahme relativ unverändert. Sogar die Besetzung der wesentlichen Rollen ist geblieben. Neben Silvia Azzoni sind wieder Lloyd Riggins als Dichter, Carsten Jung als Prinz, Hélène Bouchet als Prinzessin und Otto Bubenicek als Meerhexer zu sehen.
Und nach wie vor erscheint einem die als Auftragswerk komponierte Musik von Lera Auerbach an manchen Stellen auffallend überbordend und vollmundig. In all ihrer eklektischen Klangfülle passt sie nicht immer zu Neumeiers fein durchdachter Dramaturgie. Ihre sphärenhaften Violinsoli indes, die als Grundmotiv der kleinen Meerjungfrau erklingen, beeindrucken erneut.
Eingefasst in einen dramaturgischen Rahmen, der die Figur der kleinen Meerjungfrau mit der Person des Dichters Andersen verknüpft, ist Neumeiers Interesse ganz auf die Titelfigur fokussiert. Eigentlich geht es ihr gut in ihrem Zuhause unten im Meer, doch die Meerjungfrau sehnt sich nach einem anderen Leben. „Nichts bereitete ihr größere Freude, als von der Menschenwelt dort oben zu hören“, heißt es im Märchen. Als die Meerjungfrau den Prinzen erblickt, der durch ein Schiffsunglück in die Wellen gerät, rettet sie ihn vorm Ertrinken und verliebt sich in ihn. Vom Meerhexer lässt sie sich verwandeln. Für diese Szene der Metamorphose in ein Wesen mit Beinen, das nicht Mensch und nicht Nixe ist, sind Neumeier ergreifende, harte Bilder gelungen. Zitternd steht die Meerjungfrau da, ihr Schmerz wird geradezu fühlbar. Doch so stark sie auch ist, bleibt ihre Liebe doch einseitig. Der Prinz, von Carsten Jung mit vergnügter Schlichtheit ausgestattet, heiratet eine elegante Prinzessin. Am Ende steht die Meerjungfrau eng an der Seite des von Lloyd Riggins einfühlsam dargestellten Dichters. Die beiden bilden eine emotionale Einheit, sind untrennbar miteinander verbunden.
Die restliche Handlung kommt dabei mitunter etwas beliebig daher. Rein dekorativ erscheinen einige Ensembleszenen. Die Langeweile der höfischen Gesellschaft ist langweilig anzusehen. Die komischen Szenen sind selten lustig. Manch schöner Pas de deux hätte es gut vertragen, positionierter gezeigt zu werden. Zu viel Gewimmel auf der Bühne. Da wäre manches Mal weniger mehr gewesen.
Was aber keineswegs für das Bühnenbild gilt. Dies ist von schlichter Klarheit. So wird das Meer durch wenige fließende Lichtlinien dargestellt. Sie reichen zur Markierung der Koordinaten. Oben die Menschenwelt, unten das wogende Meeresleben. Das klaustrophobische Gefühl, das die Meerjungfrau unter den Menschen leiden lässt, spiegelt sich in einem reduzierten, vorne offenen Kasten als Kammer zum Wohnen. Die Meerjungfrau ringt verzweifelt nach Atem und Freiheit. Neumeier selbst hat Bühne, Licht und auch die Kostüme entworfen. Mit Anleihen an japanische Theaterformen bestehen die Flossen der Meerjungfrau aus überlangen, seidig glänzenden Beinkleidern. Einfach und schön.
Hamburg Ballett „Die kleine Meerjungfrau“, Wiederaufnahme am 21. April 2012 an der Hamburgischen Staatsoper. Weitere Vorstellungen: 25. 28. April, 9., 12. Mai, 22. Juni 2012