Berückende Schönheit und monströse Hässlichkeit – beide Extreme vereinigt das Programm des diesjährigen Sommerballetts im Bellevue Teatret Klampenborg / Kopenhagen. Der nach ewiger Jugend strebende Dorian Gray (in der Choreografie von Jiri und Otto Bubenicek) und der entstellte „Elefantenmensch“ (von Cathy Marston) trafen in der 11. Ausgabe des Ballettevents aufeinander.
Oscar Wildes 1891 veröffentlichter Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“, in dem körperliche Schönheit skrupellos glorifiziert wird, was gepaart mit dem Streben nach ewiger Jugend und maximaler Lust böse endet, diente den Tschechen Jiri und Otto Bubenicek (Dresden Semperoper Ballett und Hamburg Ballett) als Vorlage für ihre moderne Adaption des Stoffs. Beide zeichnen für Choreographie, Bühnenbild und Lichtdesign verantwortlich und beide tanzen auch die zentralen Rollen: Otto die Figur des Dorian Gray, mit jugendlich-unschuldigem Charme zu Beginn, am Ende verkommen zu einem verrohten Etwas, das sich gepeinigt von Horrorvisionen auf dem Boden krümmt. Sein Zwillingsbruder Jiri schlüpft abwechselnd in die Rollen des Malers Basil Hallward und des mephistophelischen Lord Henry Wotton, er verkörpert den Rache suchenden James Vane und – einzigartiger Vorteil des Zwillingsdaseins – ist das Portrait, Spiegel der Seele Dorian Grays. Raquél Martinéz (Dresden Semperoper Ballett) als Sybil Vane tanzt zart und leicht, wirft sich ihrem Dorian Gray später, als die Romanze in die Brüche geht, verzweifelnd klammernd in die Arme. Nur ihre Mimik lässt den Schmelz naiver erster Verliebtheit vermissen, sie wirkt eher unbeteiligt, routiniert. Dorian Gray, im Roman durch und durch Ich-bezogen und narzisstisch, liebt in dieser Interpretation mit echter Zärtlichkeit, ein wohltuender Twist, der dieser negativen Story sehr lichte Momente verleiht. Der schlichte und in seiner Natürlichkeit umso poetischere Pas de deux der beiden Liebenden zu Bruno Morettis „Ragazzi che fanno musica“, berührt. Passend auch die übrige Musikauswahl: Ausschnitte aus Keith Jarretts Paris Konzert erzeugen in der ersten Hälfte eine dekadente Salonatmosphäre, unter deren Oberfläche sich Unheil zusammenbraut. Jarretts Klavierinterpretation forciert in einer Mischung aus Trübsal und dem Gefühl des Zerrissenwerdens, durchsetzt von hellen Momenten, erbarmungslos eine Konfrontation mit der eigenen Wahrheit. Dorian Gray durchzuckt ein Funken Erkenntnis, wenngleich spät.
Beide Bubeniceks besitzen enorme Wandlungsfähigkeit, wirken nie aufgesetzt, sind vielmehr authentisch. Individuell ausdrucksstarke Tänzer, vervielfacht sich die von ihnen ausgehende Energie im Team. Das Haus war bis in den letzten Winkel von ihrer Präsenz erfüllt. Sie, wie auch Martinéz, hätten sicher von einer etwas größeren Bühne profitiert, auf der sich ihre tänzerischen Ressourcen besser hätten entfalten können.
Von äußerlicher Schönheit kann in „Der Elefantenmensch“, dem zweiten Stück des Programms, nicht die Rede sein, dafür von inneren Werten. Die Geschichte handelt von Joseph Merrick, im viktorianischen Zeitalter als Elefantenmensch bekannt, der - durch schwerste Deformationen von Gesicht und Körper entstellt - als „Monster“ auf Jahrmärkten zur Schau gestellt wurde. Bekannter mag der 1980 erschienene, gleichnamige Schwarzweißfilm unter der Regie von David Lynch mit Anthony Hopkins als Merricks Arzt Dr. Treves sein. Choreographin Cathy Marston, bis vor kurzem Direktorin des Balletts in Bern, arbeitete für die Kopenhagener Tanztheater- Premiere mit ähnlich illustren Darstellern. Für die Rolle des Dr. Treves kehrt Nicolaj Hübbe, ehemals Principal des NYCB, heute künstlerischer Direktor des Königlich Dänischen Balletts, auf die Bühne zurück. Alexander Kølpin, künstlerischer Leiter des Sommerballetts und ebenfalls Ex-Tänzer, übernahm den Part des Elefantenmenschen. Die Musik, eine Auftragsarbeit, stammt von der in Kopenhagen und Paris arbeitenden Komponistin und Tonkünstlerin Louise Alenius.
Marston spinnt den erzählerischen Faden vom Jahrmarkt, auf dem Edhem Jesenkovic (ehemals Dansk Danseteater) als Schausteller Ross - das Klischee eines Fieslings - seine missgestalteten Attraktionen wie Tiere hält, bis zum selbst gewählten Tod des Elefantenmenschen, der dank seines Arztes gesellschaftliche Integration und eine freundliche Behandlung erfahren hatte. Hübbe, gesetzt und formvollendet agierend, und Kølpin überschreiten nie die Schwelle zur Sentimentalität, vielmehr wahrt gerade Kølpin, als die am meisten verwundbare Figur, bis zuletzt seine Integrität und Würde. Was ihm nicht leicht gemacht wird, mutet man ihm doch zu, unter dem festgezurrt gütigen Lächeln Mrs. Kendals – in Lynchs Film eine Schauspielerin – in die sich der Elefantenmensch verliebt, wie ein Kleinkind auf einem Xylophon zu klimpern. Mette Bødtcher (Königlich Dänisches Ballett) als Mrs. Kendal blickt mit nachsichtigem, fürsorglichem Liebreiz auf ihren Schützling herab, befremdlich angesichts der Tatsache, dass dieser aus dem Alter des Bemuttertwerdens raus ist und sich zwischen beiden eine erotische Begegnung entspinnt, sei sie nun real oder Wunschtraum. Das „Sehnsucht-nach-der-Mutter-Motiv“ mag im Film funktioniert haben, hier wirkt seine Umsetzung irritierend gekünstelt. Marstons Stück zerbricht in dem Moment, als sie den im Film gezeigten Theaterbesuch nachstellt. Sie lässt eine große Spiegelfläche auf die Bühne herunter, welche die Reihen der Zuschauer reflektiert, platziert Dr. Treves und den Elefantenmenschen in die erste Reihe, „mitten unter uns“, und gemeinsam schauen wir Mrs. Kendal bei ihrer Tanzvorstellung zu. Ob das nun ein Plädoyer für Inklusion von gesellschaftlich Abgelehnten oder die pädagogische Holzhammermethode zur Beförderung der Selbsterkenntnis beim Publikum sein soll, die Atmosphäre war jedenfalls futsch, als hätte man einem Ballon die Luft abgelassen.
Sommerballett 2013: „Das Bildnis des Dorian Gray“ und „Der Elefantenmensch“ am 17. August 2013 im Bellevue Teatret, Klampenborg/Kopenhagen. Premiere am 10. August, weitere Vorstellungen bis 24. August 2013