Lloyd Riggins, der seit fast 20 Jahren erster Solist und inzwischen auch Ballettmeister beim Hamburg Ballett ist, zeigt mit Bournonvilles „Napoli“ seine erste große eigene Inszenierung. Eine Arbeitsprobe sozusagen, denn der New Yorker, den John Neumeier als seinen Nachfolger vorgeschlagen hat, wird ab Januar die Stelle des stellvertretenden Ballettdirektors übernehmen.
Ein Tanzfest. Seine Verbundenheit mit dem Werk August Bournonvilles, seine umfassende Kenntnis von Stil und Technik des dänischen Choreographen prädestinieren Lloyd Riggins für dieses Stück. Denn bevor er 1995 nach Hamburg kam, war er bereits acht Jahre beim Königlich Dänischen Ballett engagiert. Er kennt „Napoli“ wie seine Westentasche. Als junger Tänzer übernahm er zentrale Solopartien, später dann immer wieder die Rolle des Gennaro. Es sei aufregend für ihn, seine Erfahrung und sein Wissen an die Hamburger Compagnie weiterzugeben, so Riggins.
Zur Vorbereitung hat Riggins immer wieder die Werke der vier Komponisten gehört, die Bournonville beauftragt hatte. Ein buntes Potpourri romantischer Musik. Natürlich mit viel südlichem Flair, denn Bournonville hat in „Napoli“ Eindrücke verarbeitet, die er während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Italien sammeln konnte. Sein märchenhaftes Libretto erzählt von der Liebe des mittellosen Fischers Gennaro zur jungen Teresina. Die beiden sind ein Paar, da kann auch Mutter Veronica, die ihrer Tochter eine finanziell bessere Partie wünscht, nichts machen. Als ein heftiger Sturm Teresina auf einer Bootsfahrt über Bord weht, glaubt Gennaro seine Geliebte verloren. Doch dann findet er Teresina in der einsamen Zauberwelt der blauen Grotte wieder. Der Wasserdämon Golfo hat sie in eine Najade verwandelt. Zusammen mit anderen schimmernden Meerfrauen ist sie seiner Macht unterworfen. Gennaro gelingt es, Teresina zu befreien und sie in die Menschenwelt zurückzuholen. Glücklich kehren die beiden heim.
Als Spezialist für diesen romantischen Stoff zu gelten, kann natürlich auch eine Bürde sein. Druck und Erwartung hätten durchaus eher hemmen als beflügeln können. Doch Riggins hat sich Bournonvilles Werk mit Sorgfalt angenommen. Aber eben auch spontan genug und offen für das, was seine Tänzer einzubringen hatten. Und letztlich ist „Napoli“ natürlich eine dankbare Vorlage. Im ersten und dritten Akt kann man auf eine ausgefeilte Choreographie und eine bewährte, wenn auch ziemlich triviale Geschichte zurückgreifen. Der zweite Akt, der spätestens seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als verloren gilt, lässt sich indes mit eigenen choreographischen Ideen gestalten. Und genau das ist Riggins hervorragend gelungen. Die beiden überlieferten Akte hat er punktgenau und lebendig inszeniert. Unter Leitung von Markus Lehtinen harmonieren Orchester und Ensemble, selbst an den schwierigen, extrem temporeichen Tarantella-Stellen. Die für die Bournonville-Technik typische feine, keinesfalls beifallsheischende Virtuosität spiegelt sich dabei perfekt im Ausdruck der Bewegungen. Die pantomimische Erzählweise passt ins Bild, wirkt weder ironisierend noch aufgesetzt.
Für den zweiten Akt hat die Bühnen- und Kostümbildnerin Rikke Juellund eine großartige, in verschiedenen Blau- bis Lilatönen gestaltete Höhle aus unzähligen Seidenfäden entworfen. Es ist das Reich des Meeresgeistes Golfo. Otto Bubenicek gibt dieser Figur etwas Verhaltenes, Grüblerisches. Das mag zunächst überraschen. Erwartet man doch von einem mächtigen Magier in einem romantischen Ballett etwas anderes: stolze Sprungkraft, große Gesten. Aber ganz im Sinne des Librettos, in dem es heißt, Golfo sei „nicht zufrieden“, scheint dieser von einem unspezifischen, unabhängigen Verlangen beherrscht. Immer wieder verharrt er im Ansatz, der kühne Schwung fehlt. Und auch die um Golfo versammelten Najaden bleiben seltsam körperlos. Sie sind reine Parallelwesen, mal hier, mal dort, Phantasiegeschöpfe mit flirrenden Konturen. Vor allem die junge Tänzerin Madoka Sugai, die erst in diesem Jahr vom Bundesjugendballett ins große Ensemble wechselte, verleiht ihrer Argentina dabei den wunderbar eleganten Bewegungsfluß einer verwandelten Natur.
Und auch sonst präsentiert sich die Hamburger Compagnie von ihrer besten Seite. Im Mittelpunkt dabei: Silvia Azzoni und Alexander Riabko. Als Teresina und Gennaro sind sie ein perfekt aufeinander eingespieltes Paar. Wieder einmal, möchte man fast sagen. Denn die beiden ersten Solisten haben zusammen schon viele großartige Momente auf die Hamburger Bühne gezaubert. Doch auch auf die noch folgenden Besetzungen darf man gespannt sein. Carolina Agüero und Alexandr Trusch übernehmen die Hauptrollen als nächste, danach Leslie Heylmann und Karen Azatyan. Insgesamt aber ist „Napoli“ eine prächtige Ensemble-Leistung. Im 3. Akt sind an die 70 Tänzer und Ballettschüler gleichzeitig auf der Bühne, da heißt es, die Übersicht zu wahren. Lloyd Riggins ist das mehr als gelungen.
Hamburg Ballett: „Napoli“, Choreographie: August Bournonville und Lloyd Riggins, Premiere am 7. Dezember 2014 in der Hamburgischen Staatsoper. Weitere Aufführungen: 13. und 31. Dezember 2014; 10., 11., 13., 15., 16 Januar 2015 sowie 1. Juli 2015