Ran an die Grenzerfahrungen! Die Sommerpause ist rum. Erwartungsgemäß verbreitete die freie Tanzszene gleich zu Spielzeitbeginn konstruktive Unruhe – mit Gastspielen von Lia Rodrigues und Helena Waldmann in der Muffathalle und einer Uraufführung von Sabine Glenz im Schwere Reiter. Schon beide Tourproduktionen gaben sich stimmungsschürend wechselhaft wie das Septemberwetter.
Als Einstieg probte Lia Rodrigues‘ brasilianisches Performer-Kollektiv den rituellen Aufstand. Noch ganz ohne Musik. Dafür aber mit Händen voll Kaffeepulver, Mehl und ziegelfarbigem Kurkuma, das Gesichter und nackte Körper ureinwohnerhaft für Überschreitungen der Wohlfühldistanz einfärbte. Um Befindlichkeiten aufzurütteln? Die kriegerisch-wilde, stampfrhythmische Bewegungsschlacht, die sich Annäherungs- und Blickduellen zwischen Interpreten und Zuschauern anschloss, gipfelte am Ende von „For the sky not to fall“ in eine befreiende Katharsis aus Erschöpfung. Leider aber nur auf Seiten der ausgepowerten Tänzer.
In Helena Waldmanns jüngster Tanzregiearbeit „Gute Pässe Schlechte Pässe“ – einer der diesjährigen Festivalhotspots – wurde man erneut mit dem Thema globaler, mitunter gesellschaftspolitischer Schieflagen konfrontiert. 22 Laien verhaken sich zu einer undurchdringlichen Mauer. Zu ihrem Einzug im Flüchtlingstross ertönt aus dem Off Wagners Pilgerchor aus „Tannhäuser“. Das hat radikale Vereinnahmungskraft.
Der Mitnahmefaktor dieses Einstünders ist ein zirzensisch-unterhaltsamer Schlagabtausch von zwei künstlerisch unterschiedlichen Parteien. Im Wechsel von Aktion und Reaktion vertreten vier Tänzer eine um Ausdruck bemühte Clique fanatischer Nein-Sager. Den Gegenpart bilden drei Nouveau-Cirque-Artisten. Deren spektakuläre Show-Akrobatik-Nummern zu barocker Musik am Mast beinhalten nix, sind choreografisch jedoch Spitze.
Eine Verführung durch Extreme mit nicht minder hohem Erlebniswert war die Uraufführung „Phasen. Machen“ von Sabine Glenz. Als „choreografische Recherche“ (so der Untertitel) machte sie sich Steve Reichs Kompositionsprinzip des „Phasing“ zu eigen. Gemeinsam mit vier Schlagzeugern der Münchner Philharmoniker gelang der hiesigen Tanzschöpferin ein Triptychon aus reinen Tempodifferenzen. Glenz bewerkstelligte ein puristisch total aussagefreies, streng analytisches, dabei klangsinnliches Bewegungsäquivalent zu drei Werken des amerikanischen Minimalmusik-Pioniers.
Drei Stationen mit Instrumenten unterbrechen das Zuschauerrund. Die Idee, die Bühne für acht Bongos in „Drumming“, zwei Marimbas in „Marimba Phase“ und über Lautsprechern hängende Mikrofone in „Pendulum Music“ freizugeben, kam am Premierenabend gut an. Kreisförmig angeordnete Scheinwerfer (Licht: Charlotte Marr) schweben über der freien Fläche. Durch zeitweise Beleuchtungssequenzen wird die Wahrnehmung der Zuschauer im Verlauf des Abends zusätzlich sensibilisiert.
Mit solistischen Versatzstückkombinationen aus Gliederschwüngen, Gehen und Rennen beginnt zuerst eine von insgesamt drei Tänzerinnen, Reichs System sich wiederholender Grundmuster choreografisch zu übersetzen. Noch lebhafter tanzen die Schlegel der Perkussionisten durch Raum und Zeit, wobei die musikalische Form in changierenden Schrittsequenzen oder vor- und zurückgeworfenen Haaren visuell überraschende Entsprechungen findet. Sogar das Pendeln der Arme wird zum Sound, wenn diese die Kleidung streifen. Bleibt der Ton plötzlich weg, denkt man sich ihn im Kopf weiter. Große Wirkung, spannende Erfahrung – mit einfachen Mitteln hervorgerufen.
Lia Rodrigues „Para que o céu nao caia“ („For the sky not to fall“ ) am 5. September in der Muffathalle; Helena Waldmann: „Gute Pässe, Schlechte Pässe“ am 13. September in der Muffathalle; Sabine Glenz: „Phasen. Machen“ am 15. September 2017 (Uraufführung) in Schwere Reiter München.