Gefühlsausbrüche im Zeitraffer. Noch bevor sich der Vorhang im Nationaltheater hebt, überfährt der Sound einer über Gleise ratternden Eisenbahn das Publikum. Christian Spucks schlanke, in ihrer personellen und ästhetischen Vielschichtigkeit recht komplexe Ballettadaption des russischen Weltklassikers „Anna Karenina“ ist seit der Zürcher Uraufführung 2014 rund um den Globus gefragt.
Überall – in Moskau, Oslo, Seoul und nun München – wurde die Choreografie auf das Profil der jeweiligen Kompanie zugeschnitten und so weiter geschärft. Nicht von ungefähr kommt daher der frische Eindruck, den die fantastischen Interpreten des Bayerischen Staatsballetts an diesem Premierenabend hinterlassen. Was müssen die Tänzer auch schauspielerisch hier alles leisten! Schritt für Schritt – verunsichert mit Blicken und abrupten Gesten aufeinander zugehend – schälen sich Spucks Hauptcharaktere aus der Schockstarre. Ein Tableau, das einer historischen Familienfotografie gleich die gesamte Bühne vereinnahmt. Gut eindreiviertel Stunden reiner Spielzeit später werden die Solisten und das nicht minder ausgezeichnete Corps de ballet weit mehr bejubelt als Spuck mit seinem Team.
Vielleicht lag dies daran, dass seine wortlose Erzählung allzu rasant an Fahrt aufnimmt. Schlaglichtartig werden innerhalb von 15 Minuten sämtliche handlungsrelevanten Figuren in prägnanten Auftritten vorgestellt. Inklusive aller Schlammassel, in denen sie stecken – Dolly und ihr notorisch untreuer Stiwa etwa – oder wie diese letztlich umschifft werden: beispielsweise Kitty, die ihre schwärmerische Zuneigung für Wronski als Irrweg erkennt, und Lewin, indem er sich in die bäuerliche Naturverbundenheit zurückzieht. Letzteres bot dem Choreografen die Möglichkeit zu einer straff strukturierten, perkussiv unterlegten Einlage für neun Männer mit bloßen Oberkörpern. Deren sich ständig wiederholende Armbewegungen visualisieren das rhythmische und schweißtreibende Mähen mit Sensen. Ein schönes Bild von körperlicher und linearer Power!
Zu blass dagegen bleiben die Offiziersmutter Gräfin Wronskaya (Elaine Underwood), die von ihr als Schwiegertochter protegierte Prinzessin Soronkina (Antonia McAuley) sowie Karenins sittenstrenge Vertraute Gräfin Lidija Iwanowa. Mangels Spielraum wirkte sogar eine Séverine Ferrolier im grauen Korsett der gefühlskalten Erzieherin von Annas Sohn steif. Dennoch fungieren auch diese Figuren im Stückverlauf gezielt als Motivatoren.
Der konterkarierende Umgang der Paare miteinander zieht sich über Ball- und Salonszenen hin. Wo man gerade weilt – auf dem Land, am Bahnsteig, beim Pferderennen (simpel, ein klein wenig grotesk und klar: Alle haben, auf einer Tribüne verteilt, ihre Hände wie Fernrohre vor Augen), in Moskau oder im St. Petersburger Haus der tonangebenden Fürstin Betsy Twerskaja (mit viel Glamour: Mia Rudic) – erklärt sich über ins Bild gerückte Holzpodeste sowie Film- und Fotoprojektionen in schwarz-weiß, die auf weiße, in die Szenerie hineingezogene Vorhänge projiziert werden. Dann wieder formiert sich das Ensemble zu raumfüllenden Diagonalen. Dabei scheint sich die Stofffülle der Damenkleider als geometrisches Kraftraster im bewegten Hintergrund manchmal zu schier undurchdringlichen Barrieren aus Etikette und Konvention aufzubauschen (Kostüme: Emma Ryott).
An der Seite der sich immer wieder neu ein Herz fassenden Ivy Amista als dauerbetrogener Frau von Annas Bruder Stiwa (sprunggewaltiger Frauenheld: Tigran Mikayelyan) beeindruckt Ksenia Ryzhkova. Ihr gelingt es, der zwiespältigen Titelpartie völlig natürliche Gestalt zu verleihen. Annas starker Gefühlspalette in Liebes- und Beziehungsdingen lässt sie impulsiv wie raffiniert tanzend freien Lauf. Wunderbar hin- und hergerissen zwischen Sollen und Wollen, zwischen Freiheitsdrang und inneren Brüchen – inklusive subtiler Steigerung bis zum finalen Selbstmord.
Reif und selbstsicher ist sie Karenin eine smarte Gefährtin. Zunehmend hart und brutal wird dieser – absolut rollendeckend – von Erik Murzagaliyev verkörpert. Erst die Amour fou mit Graf Wronski macht Anna eigenwillig, abhängig und zerbrechlich. Wronski ist das Rollen- und Münchendebüt des kanadischen Gastsolisten Matthew Golding. Zum Schluss des ersten Teils drückt er sich aus Angst, Anna wieder an Karenin zu verlieren, furios den Revolver an den Kopf. Man hat den Eindruck, dieser fantastische Tänzer gehöre hier einfach schon immer zum Ensemble.
Christian Spuck hat Tolstois voluminöse Literaturvorlage kammerballetthaft angelegt und zu einer Art tanztheaterpoetischen Vision des Romans verdichtet. An sich sehr eindrücklich, wäre da nicht dieses enorme Tempo, mit dem er die Geschichte durch die ganz auf schwierige Emotionen getrimmten Tänzerinnen und Tänzer durchexerzieren lässt. Um den konträren Hauptfiguren wirklich folgen zu können, hätte man im Handlungsablauf vieles gern ein wenig langsamer. Ebenso dürften einige Knotenpunkte und entscheidende Momente – ob Solo oder Pas de deux –choreografisch ruhig noch breiter ausdifferenziert sein.
Zum melancholischem Lied „Die Nacht ist traurig“ – einfühlsam live von der Mezzosopranistin Alyona Abramova im kargen Ambiente weniger Dekorelemente gesungen – legt Jonah Cook fabelhaft Lewins Innerstes offen. Zuvor war sein Heiratsantrag von Kitty (strahlend und die sonnigste Erscheinung des Abends: Laurretta Summerscales) abgewiesen worden. Deutlich tritt hier hervor, wie zeitgenössisch Spucks Tanzsprache eigentlich ist. Und das, obwohl „Anna Karenina“ zu einer klug aus Werken von Rachmaninow, Lutoslawski, Tsintzadze und Bardanashvili kompilierten Partitur als seine insgesamt klassischste Produktion gelten kann.
Als einziger schreitet Wronski am Ende an Annas totem Körper vorbei in Richtung des fallenden Vorhangs. Ob sich in der Rückblende des Balletts die Erinnerungen von Annas Liebhaber entrollen oder eher kollektive, bleibt letztlich offen. Ein leiser Schluss als Herausforderung.
Bayerisches Staatsballett: „Anna Karenina“, Premiere am 19. November 2017. Nächste Vorstellungen: 25. November, 1. Dezember im Nationaltheater München