Dem vielseitigen Sängerphänomen Fritz Wunderlich (1930 bis 1966) in einer Choreographie gerecht zu werden, ist keine einfache Aufgabe. Der Grazer Ballettdirektor Jörg Weinöhl stellte sich ihr und löste sie mit einem schlüssigen Zweifach-Konzept: Dem Facettenreichtum des Künstlers setzt er einerseits die differenzierten Perspektiven dreier Choreographen und andererseits sehr unterschiedliche Herausforderungen an die Tänzer entgegen.
Mussten sich diese doch in unmittelbarer Aufeinanderfolge und ebensolchem Nebeneinander darauf einlassen, mit einem ihnen unbekannten Choreographen zu arbeiten, weiters mit der ihnen aus ihrem Berufsalltag bestens vertrauten Ballettmeisterin in eben dieser „anderen“ Rolle und schließlich mit einem aus ihrer Mitte, einem Tänzer-Kollegen. Entstanden ist ein dichtes, eineinhalbstündig pausenloses Programm; ein anspruchsvolles also auch für das Publikum, das dieses aber nichtsdestoweniger mit mehrfachem Szenen- und langanhaltendem Schluss-Applaus quittierte.
Dass es sich bei der gewählten Musik nur zu einem kleinen Teil um eine von Wunderlich interpretierte handelt, mag vorerst den einen oder anderen verwundert haben. Dem lag aber die klar definierte Aufgabenstellung Weinöhls zugrunde, in einer Choreographie rund um Wunderlich sich diesem anzunähern; innerhalb dieser Vorgabe war dann aber alles „erlaubt“ – und die drei Interpreten nutzen die gegebene Freiheit auch in wunder-barer Weise: Sie stülpen sich nicht seine Musik über, sondern versuchen, in diese sich einzufühlen und das Erfahrene tänzerisch mitzuteilen.
João Pedro de Paula hatte den vergleichsweise längsten Weg zu dieser Musik zurückzulegen: Am offensten und weitesten ist so auch seine Bezugnahme, gerade weil sie ihm eine besonders neue und tiefgehende Erfahrung ist. Sie kreist daher auch um seine persönliche Suche und allgemein um die von Unerfahrenen, Jungen nach fundamentalen Größen wie Self-awareness und Geduld in Verbindung mit Glaube sowie Relevanz; eingebettet im Jetzt. Wunderlichs Unbeirrbarkeit ist für ihn als Tänzer die stärkste mit jenem gemeinsame Größe. Dass dieser thematische Umfang in einer 15minütigen Choreographie nicht vermittelbar ist, ist naheliegend. Aber die Bipolarität von Gemeinsamkeit und Individuellem seiner vier „Archetypen“, präsentiert in einer markant geschnittenen Bilderabfolge, lässt romantisches Sehnen wie banale Realitätshärte über die Rampe kommen. Eine neuerliche Bearbeitung sowie ein größeres Zeitfenster für die Präsentation könnte ein noch abgerundeteres Nachhallen bewirken.
Jedenfalls gilt für diese Arbeit wie auch für die beiden folgenden: Sowohl die Kostüme Silke Fischers wie auch ganz besonders das Lichtdesign von Sebastian Alphons für den leeren schwarzen Raum tragen das Ihre zum Erfolg dieses Abends bei.
Es ist ein fotografisches Auge, mit dem Jaione Zabala Lebenswege sieht: den von Wunderlich, ihren eigenen, den der Welt im gegebenen Zeitabschnitt. Diese drei greifen in ihrem choreografischen Mosaik, dessen scharfe Kanten immer wieder unter die Haut gehen, stimmig ineinander, ergeben ein dramaturgisch klar eingerahmtes, berührendes Ganzes. Zum besonderen Schillern dieses Neben- und Ineinanders tragen einerseits klar gezeichnete Soli von Chris Wang, und andererseits ein feinsinniger Pas de Deux von Daniel Myers und Simon van Heddegem bei, der gleichermaßen intensiv durch Zurückhaltung wie Stärke der Emotion punktet. Im Gegensatz dazu weiß Zabala aber auch Lebensfreude zu zelebrieren: gemeinsam mit allen 12 TänzerInnen des Balletts, die dem Publikum überzeugend ausgelassen in einer bunt gewandeten Szene mitreißend um die Ohren tanzen. Um dann wieder die Kraft der Konzentration für die Tücken des Miteinanders zu haben. Effektvoll-klug eingesetzt als rare Requisiten sind hier in Varianten Schiebewände, die nicht nur verschließen, unterteilen, sondern den Horizont auch (durch kurze Videoeinspielung) öffnen. Es sind derart weiters unterstrichene, überzeugende Augen-Blicke in divergierende Welten des Miteinanders, die hier packend vorüberziehen.
Helge Letonja, der in Graz, Amsterdam und New York ausgebildete steirische Tänzer-Choreograph und Festivalleiter, arbeitet seit Jahren international erfolgreich; dieser fundierte Hintergrund ist bei seiner Auseinandersetzung mit der gestellten Aufgabe augenfällig. Aber auch - und dies ist keine Selbstverständlichkeit - der Eindruck einer sehr ernsthaft- sensiblen wie wohldurchdachten Herangehensweise an ein großes Thema. Im Zentrum seiner Choreographie stehen Stiefel als vielgestalte Metapher zwischen direktem biographischen Bezug zu Wunderlich wie auch etwa als visuell abstrahiertes Bild für Noten – dem also, was für den Tänzer wie dem Sänger im Fokus steht.
Wie schwierig es ist, Gegebenes zum Sprechen, zum Ausdruck zu bringen, das zeigt schon das erste starke Bild des tonlos gezogenen Akkordeons. Wieviel aber doch mit einem gut geführten TänzerInnen-Ensemble auszudrücken ist, dafür ist diese Choreographie ein handfestes Beispiel; bei aller Abstraktion der Inhalte. Es ist ein magisches Pulsieren von Bewegungen – einzeln, zu zweit, zu dritt und im gleichzeitigen Kontrast zu allen anderen –, das atmosphärisch in den Bann zieht Es sind die klar gezeichneten, teilweise skulpturartigen Formgebungen in Bewegung, die innere Bilder fließen lassen; es sind zart lyrische Tanz-Sequenzen, in denen man sich fast verliert. Wäre man nicht immer wieder unbarmherzig aufgerüttelt durch angedeutete, aber deswegen nicht weniger heftige Realitätsbezüge. Barbara Flora ist in dieser mitreißenden Choreographie und dem insgesamt gut disponierten Ensemble ein kongenialer roter Tanzfaden.
Ballett der Grazer Oper: "Wunderlich!"; João Pedro de Paula: “Sabotage”, Jaione Zabala: “Path”, Helge Letonja: “Untitled – a step for a dancer … a breath for a tenor …” Studiobühne der Oper Graz, Premiere: 1. März 2018; weitere Vorstellungen: 3., 7., 10., 11., 14., 16. und 17. März