„Ein Tanzspiel“ nennt Jörg Weinöhl seine Choreographie frei nach Motiven von William Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“. Es ist ein ideen- wie assoziationseicher Bilder-Reigen seiner Gefühle und Gedanken um Ge-träumtes, nicht so sehr um Er-träumtes; ein ästhetisches Spiel um ins Irreale transformierte Realitäten – um denkbare, um befreiende, aber auch um bedrohliche Möglichkeiten. Es geht um die Suche von (Lebens-)Wegen, um individuelle, um solche zu zweit und in Gemeinschaft.
Durch das Sich-Einlassen auf die Welt der Gedanken, der Träume könnte sich der Blick erweitern, sollte sich anderes, Neues bieten oder angeregt werden. Zur (bekannten) verbalen Ebene fügt sich zu diesem Zweck nicht nur ausgewählte Stücke von Felix Mendelssohn Barthold, sondern auch Musik, die von Mozart bis Stromae reicht. Unter der Leitung von Robin Engelen spielen gut disponiert das Grazer Philharmonische Orchester, singt der Damenchor der Oper mit den begeisternden Solistinnen Sieglinde Feldhofer und Andrea Purtić. Zu dieser akustischen Vielfalt fügt sich in das zurückhaltende und umso ästhetischere Bühnenbild (Saskia Rettig) das des körperlichen, des visuell opulenten Tanzes.
In Weinöhls Klassiker-Interpretation wird keine große, lineare Geschichte erzählt, sondern viele kleine werden angerissen, werden als Denkanstoß kurz dem Blick freigegeben. Die in ihrer Schräg- und Verdrehtheit, in ihrer Unlogik dabei gegebenen Bock- respektive Esels-Sprünge unterstreichen zumeist nachvollziehbar und immer wieder witzig oder auch ironisch das häufig Absurde des dargestellten, unseres Tuns. Das wiederholte Erstarren der Handlung in bewegungslosen Bildern gibt nicht nur Denk-Zeit frei, sondern schafft vor allem realitätsbezogenen Abstand zur Bühnenwelt. So wie Weinöhl in den Text- und Musikvorlagen dem Allgemeingültigen und Gegenwartsrelevantem nachspürt, suchen die Tänzer mit ihm nach körperlich Darstellbarem und die Figuren, die Rollen nach eigenständig Umsetzbarem.
Dass diese Choreographie kein harmonisches Ganzes, sondern ein sich (zeitweise) wiederholendes, löchrig-eckiges, befremdend-bekanntes, schillerndes Etwas ist, ist nur konsequent für Geträumtes und erst recht auch für Gegenwärtiges. Denn wer ist es nicht immer wieder: überrascht, verdutzt, ratlos, geängstigt, aber eben auch amüsiert, glücklich, hoffnungsvoll (träumend). Den Rahmen für diese ergebnisoffene Umsetzung gibt schon in der ersten Szene ein Satz vor, der treffsichere, vielschichtige Antwort ist auf die zahlreichen Leerstellen des Kontrollierenden, des Etablierten: „Nein, die Kinder sind nicht da. Sie sind im Wald beim Spielen“. Das ist sie also, die Basis für das Folgende: die sich erprobende Ablehnung, die Verneinung des Erwarteten, Gegebenen, die Entdeckungsfreude und Suche nach anderem, nach Neuem.
Diese unbändige, vorurteilsfreie kreative Schaffenslust und -kraft gelingt es allerdings nicht wirklich tänzerisch überzeugend, mitreißend, sichtbar zu machen. Oder sollte durch das Fehlen von Leichtigkeit und Lockerheit ein Hinweis auf bereits eingebüßter Kraft derartig Eingeengter, nachhaltig Geschädigter spürbar werden?
Wohl überlegt jedenfalls, dass die für Irrungen und Wirrungen in der Text-Vorlage gegebene (und manchmal, im motivierenden Sinne, ja auch tatsächlich notwendige) rosarote Brille nur sehr zeitbegrenzt eingesetzt wird. Denn dann wird Klartext gesprochen (ironischerweise durch einen, dessen Künstlername ein Verlan ist, also auf (Silben-)Verdrehung beruht): zur Musik des Rappers Stromae nämlich, zu der eine gelangweilte ‚heutige Jugend‘ belanglose Schritte auf fiktive rote Teppiche setzt – authentisch und zum Schmunzeln, wenn es nicht so traurig wäre.
Ein kritisch gelungener ‚Seitenblick‘ gelingt mit dem Einsatz von Udo Jürgens‘ Lied: „Und Immer wieder geht die Sonne auf“: Während der verträumte Zettel (João Pedro de Paula) in einem expressiv-faszinierenden Solo um eine ihm begreifbare, einfach geordnete Welt ringt, läuft diese unbeirrt an ihm vorbei – da hilft auch kein untermalender, noch so einfach gestrickter Liedtext.
Visuell-performativ köstlich der Einzug zweier Brautpaare ins Eigenheim von der Stange, während die Braut des dritten Paares noch schnell das Fremdgehen übt: Der Haussegen hängt nicht nur schief, sondern verknittert auch solidarisch.
Das Suche und vor allem das Finden von Besserem ist also als immer noch geltende Tatsache keine, wenn auch noch so sehr erträumte Selbstverständlichkeit; und so verklingen letzte Mendelssohn-Töne melancholisch vor der leeren Bühne.
Ballett der Oper Graz: „Sommernacht, geträumt“, Uraufführung am 5.Mai 2018 in der Oper Graz. Weitere Vorstellungen am 11., 17., 18., 296., 30. Mai, 17., 20., 24. Juni