Shakespeare neu zu erfinden ist ein riskantes Unterfangen, auch wenn es in der wortlosten Kunst des Tanzes erfolgt. Bei der „Romeo und Julia“-Version von Angelin Preljocaj erschließt sich der Mehrwert jedenfalls nicht. Der französische Choreograf, der sich seit Ende der 1980er Jahre mit seinen zeitgenössischen Klassiker-Inszenierungen international einen Namen gemacht hat, verlegte das Liebesdrama in eine unbestimmte Zeit und in ein totalitäres System.
Die Capulets haben die Stadt Verona nun unter Kontrolle, die Montagues gibt es nicht mehr. Das Bühnenbild (Enki Bilal) evoziert eine DDR-Grenzstation – auf der Brücke patrouilliert des öfteren ein Polizist der Hundestaffel. Doch diese Grenze schützt die Machthaber nicht vor fremden Eindringlingen, sondern vor der „elenden, ausgebeuteten Bevölkerung“ (Programmheft), die die Mauer immer wieder durchbricht und sich mit den Milizsoldaten anlegt.
Für die Kontrahenten hat Preljocaj sehr unterschiedliche Tanzstile gefunden: die Capulets marschieren eckig, steif und ordentlich in Reih und Glied. Dieser Bewegungsmodus ist auch in den Ammen eingeschrieben, die wie ferngesteuerte Roboter und dennoch (scheinbar?) als Komplizinnen von Julia agieren.
Die Bevölkerung hingegen ist in ihrem Elend fröhlich, entspannt und äußerst agil unterwegs. Das ist Preljocaj-Stil at its best: dynamisch, sprunggewaltig, extrem schnell. Die TänzerInnen gewinnen ihren Impuls aus einem Moment der Entspannung, der die Körper wie Geschosse wirbelnd in die Luft wirft. Hier ist das Ensemble auch ganz in seinem Element, allen voran der hinreißende Leonardo Cremaschi als Mercutio. Der Pas de trois mit ihm, Romeo und Benvolio sowie eine Gruppenszene des „Volkes“ sind die choreografischen Höhepunkte des Abends.
Das erste Treffen zwischen Julia und Romeo findet bei einer Art Militärparade statt, wo sich die drei Burschen untermischen. Die Männer werden von den Frauen der Oberschicht gemustert und begrapscht. Unter ihnen auch Julia, die bei Romeo hängen bleibt. Dann gehen die Frauen inklusive Julia wieder ab. Die Zuschauerin fragt sich: was war das jetzt? Truppeninspektion?
Dem Liebesduett zwischen Roméo (Laurent Le Gall) und Juliette (Virginie Caussin) liegen motivische Bewegungswiederholungen zugrunde, doch die Selbstvergessenheit von Teenager-Liebe wird nur in wenigen Momenten spürbar. Da lastet der Schatten der Vorahnung schwer. Diese verstärkt Preljocaj auch mit seiner Musikdramaturgie. Prokofjews Komposition – tapfer interpretiert vom Tonkünstlerorchester Niederösterreich unter der Leitung von Garrett Keast – wird immer wieder von elektronischen Clustern (Sounddesign: Goran Vejvoda) durchbrochen.
Als Tybalt Mercutio tötet, liegt Romeo mit seiner inzwischen Angetrauten im Bett. Der Freund stirbt allein, und sein Tod ist für die weitere Handlungsentwicklung unbedeutend. Denn Romeo wird ihn nicht rächen. Er verlässt bei Sonnenaufgang, aufgescheucht von den Ammen, das Liebesnest. Beim tragischen Ende folgt Preljocaj der Shakespearschen Vorlage.
Das Gift, das Julia in den Scheintod führt, ist in dieser Version ein rotes Tuch, das sich Julia um den Körper legt. Die Rolle des Bruder Lorenzo ist insgesamt vernachlässigbar. Es scheint, als hätte der Choreograf keine dramaturgische Alternative zur Hochzeit gefunden, die das Schicksal der beiden Jugendlichen besiegelt.
Warum aber beobachtet der hitzige Tybalt nun ganz gelassen das Drama des Doppelselbstmordes von der Kommandobrücke aus und geht dann zufrieden ab? Big Brother versus Shakespeare?
Ein Vergleich drängt sich auf: Vor einigen Wochen war, ebenfalls aus Frankreich, José Montalvo mit seiner Neu-Interpretation von „Carmen“ im Festspielhaus St. Pölten zu Gast. Montalvo geht mit seiner „Métissage“ – dem Mix aus unterschiedlichen Tanzstilen- und kulturen – ganz andere künstlerische Wege als sein Kollege, doch auch sein Zugang zu klassischen Stoffen, ist grundlegend anders. Er versucht die Grundidee einer populären Vorlage herauszuarbeiten und unter Verwendung der Originalmusik für die heutige Zeit sinnstiftend zu reflektieren: Montalvo verzichtet darauf, die Geschichte erzählen zu wollen, und stellt seine „Carmen(s)“ als Symbol für die selbstbestimmte Powerfrau in den Mittelpunkt, die in uns allen, also auch in allen Tänzerinnen und Tänzern (!), seiner Compagnie steckt.
Auf der anderen Seite der Versuch, an einigen Schrauben der berühmtesten Liebesgeschichte der Weltliteratur zu drehen: Preljocaj verändert den Kontext der Geschichte von Verona in Zeiten der Renaissance in eine repressive Militärdiktatur der Neuzeit. Das geht nicht nur auf Kosten der Erzähllogik, sondern verlangt nach heute überholt wirkende tanzdramaturgischen Mittel, wie etwa die militärischen Aufmärsche. (Die Choreografie stammt aus dem Jahr 1996.) Und eine Message, wie sie „Die Westside Story“, deren Texte im Abendprogrammheft mehrfach zitiert werden, vermittelt, ist in Preljocajs dystopischer Vision ebenfalls nicht auszumachen.
Ballet Preljocaj „Roméo et Juliette” am 24. November 2018 im Festspielhaus St. Pölten.