Mit „L’Oiseau de Feu“ zur gleichnamigen Ballettsuite von Igor Strawinsky und „Exhibition“ zu Maurice Ravels Ochester-Bearbeitung der „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski zeigte das Ballet Vlaanderen im Festspielhaus St. Pölten zwei Arbeiten ihres künstlerischen Leiters, des flämisch-marokkanischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui. Ein wegen zu vieler Unsicherheiten getrübter Genuss.
„Der Feuervogel“
Bombastisch beginnt „L’Oiseau de Feu“: Ein glühendes Bühnen-Setting mit den Nebel durchdringendem roten Licht und einem zwischen hohen Wänden gefangenen weiblichen Feuervogel mit bühnenbreiten Schwingen, ausgebreitet und bewegt von Tänzern.
Auf einem Boden wie aus Treibeis und zwischen den Spiegeln an den Innenseiten der von den DarstellerInnen selbst immer wieder umgestellten fahrbaren schrägen Eck-Wände (Bühne und Licht: Willy Cessa) tanzen 18 TänzerInnen unter dem ständigen Fall schneeweißer Federn unerwartet viel Spitze und klassisches, nur selten durch Zeitgenössisches gebrochenes Vokabular. Dass sie in der Lage sind, ausdrucksstark und technisch auf hohem Niveau zu tanzen, blitzt immer wieder durch. Was die Bandbreite der vom Tonkünstler-Orchester unter der Leitung von Yannis Pouspourikas live und bravourös intonierten Musik Strawinskys, von zärtlich bis monumental, an die Ohren brachte, wurde feinfühlig bis kraftvoll auf der Bühne bebildert.
In der slawischen Mythologie liegt der Ursprung des Feuervogels, der seinem Fänger Segen und Unheil zugleich beschert. Seine Federn sind auch Warnung vor schwierigen Unternehmungen – in diesem Stück leider allzu direkt. Denn die vielen Hebungen und die von der Choreografie geforderten Synchronizitäten überfordern, zumindest an diesem Abend, die Compagnie. Das Ausmaß an Instabilität, das einsetzende Bangen um das Gelingen der Figuren ließen nur noch wenig Raum für die emotionale Rezeption dieser an Metaphern reichen Arbeit.
Die Kostüme von Tim Van Steenbergen geben den Oberkörpern den Anschein abgezogener Haut, es wirkt wie freigelegte Rippenbögen, zu denen die Frauen lange weiche Röcke, die Männer dunkle Hosen tragen. Einzelne große Federn in den Händen haltend, werden die Frauen in die Höhe gehoben, klagend und fragend bleibt ein Mann allein zwischen den Spiegeln. Und die Polarität schneit unaufhörlich vom Himmel.
„Exhibition“
Die Pause vor dem zweiten Teil des Abends, der 2016 uraufgeführten Choreografie „Exhibition“, war offenkundig auch eine Zeit der Sammlung. Mit deutlich größerer Sicherheit und Geschlossenheit werden die ineinander fließenden Szenen der wiederum live und mit aufmerksamem Timing von den Tonkünstlern gespielten „Bilder einer Ausstellung“ präsentiert. Goldene Bilderrahmen vom Porträt-Format bis übermannshoch, auch hier von der Kompanie selbst viele Male neu arrangiert, und Stühle, mal rechts und links, mal hinten, dann vorn gereiht sind die Raum gestaltenden und Assoziationen provozierenden Bühnen-Elemente.
In weiten bodenlangen Reifröcken schweben die Tänzerinnen wie auf Schienen vor den Rahmen, bewegen die Arme und Hände in Wellen, ihre Geschmeidigkeit in konfuzianische Strenge geschnürt. Oder sie bewegen sich eckig in den auf dem Boden liegenden Rahmen; nur Einzelne lehnen diese Begrenzung ab und entsteigen dem Rechteck, schauen die Anderen. Eine Tänzerin erscheint mit einer langen Schleppe, die dann wie ein Bild in einen Rahmen gehängt wird. Seht ihr, was ich mit mir trage? Im Hintergrund erscheint irgendwann ein riesiges abstraktes Gemälde, das im Zentrum ganz schwach nur ein entstelltes menschliches Antlitz erkennen lässt. Oder die TänzerInnen bewegen sich in einem golden gerahmten Halbkreis ungemein offen mit ausladendem, kraftvollem, Raum greifendem Gestus bis an die Grenzen ihrer physischen Flexibilität. Machtergreifung, wie sie sein soll. Das Lichtdesign von Fabiana Piccioli unterstreicht mit wechselvollem Spiel die Diversität der Szenen, die zuweilen ob ihrer emotionalen Klugheit tief berühren.
Für Cherkaoui sind nicht die Bilder Viktor Hartmanns, des 1873 verstorbenen Maler-Freundes Mussorgskis wie für dessen „Bilder einer Ausstellung“ Ausgangspunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung, sondern, es wäre nicht Cherkaoui, die zeitenlose Vielfalt der menschlichen Charaktere mit ihren mannigfaltigen Prägungen. Beobachter und Akteur gleichermaßen, geben sich die TänzerInnen selbstverliebt und außenseiterisch, Gruppenzwängen unterworfen und Zweisamkeiten zelebrierend, den gesellschaftlichen, sozialen, religiösen und intrapsychischen Rahmungen, Eingrenzungen und Deformationen unreflektiert unterworfen oder diese selbst befreiend aufbrechend und überwindend. „Exhibition“ dürfen wir auch als Zurschaustellung von Innenleben begreifen, voller Poesie dazu einladend, das goldgerahmte Spiegelglas nicht zu übersehen.
Ballet Vlaanderen mit „L’Oiseau de Feu“ und „Exhibition“ von Sidi Larbi Cherkaoui am 26. April 2019 im Festspielhaus St. Pölten.