Seit Jänner haben 24 internationale TänzerInnen mit dem israelischen Choreografen Shahar Binyamini zusammengearbeitet. Das Ergebnis, das 20-minütige Stück „Ballroom“, kam nun im Festspielhaus St. Pölten zur Uraufführung zusammen mit der Einstudierung von „Decadance“ von Ohad Naharin. Auch eine Gruppe von elf Laien nahm am Gaga-Training teil und wurde an diesem Abend eingebunden. Ein Community-Projekt, als das es ursprünglich geplant war, ist es dennoch nicht geworden.
Ohad Naharin nennt Gaga eine Beweegungssprache. Es ist jedenfalls keine choreografische Methode. Im Gegensatz etwa zu Martha Graham, die eine Technik mit Bewegungselementen für ihre Choreografien kreierte, schuf Naharin, Leiter der Batsheva Dance Company in Tel Aviv (und auch ehemaliger Graham-Tänzer), Gaga um die Körper seiner TänzerInnen auf ein vielfältiges Bewegungsrepertoire vorzubereiten. Im Prinzip ist Gaga ein ständiges, neugieriges Erkunden von Bewegungen des eigenen Körpers und seines Umfeldes. Einfache Bewegung entwickeln sich durch Improvisationen zu vom Lehrer vorgeschlagenen Imagery, sie werden größer und intensiver, dehnen sich aus bis sie schließlich den ganzen Körper erfassen. Ziel ist eine möglichst große Flexibilität und Durchlässigkeit zu erreichen. Durch die Selbstbestimmung, die dem Gaga-System zugrunde liegt, eignet es sich für alle Körper, für professionelle TänzerInnen ebenso wie für Laien. Nicht nur die für die Performance ausgewählten TänzerInnen und Laien kamen im Rahmen des Gaga-Projektes in den Genuss dieses Trainings. Als Zusatzangebot wurden seit Jänner auch einige Gaga-Stunden für die Allgemeinheit angeboten.
Die Kreation „Ballroom“ von Shahar Binyamini, der diesen Abend als Artist in Residence im Festspielhaus St. Pölten gestaltete, ist ein anschauliches Beispiel, wie Gaga auch den choreografischen Ansatz bestimmen kann. Das Stück entstand, so verrät Binyamini in einem Interview, aus einer spielerischen Improvisation mit Bällen in seinem Wohnzimmer – der Titel bezieht sich also nicht auf Gesellschaftstanzräume, sondern auf Spielbälle. Von dieser Aktion ausgehend entwickelte sich ein Gruppenstück, das eine Geschichte erzählt, und zwar ausschließlich über die körperliche Ebene. Denn die Konstellationen entstehen wie in der Gaga-Bewegungsforschung: der Tanz beginnt in einer kompakten Gruppe in einem Lichtreifen, die sich langsam auflöst, Kleingruppen formieren und zerstreuen sich, bevor die TänzerInnen weder ganz nah zusammenzurücken. Faszinierend, wie sich die Bewegungen durch die Körper – der einzelnen TänzerInnen ebenso wie im Corps – schlängeln, wie sie sich von einem Punkt im Zentrum in die Gliedmaßen ausbreiten, wie sie die Bälle, die an ihren Händen „kleben“ zu Verlängerungen ihrer Arme, zu Bewegungsanstoß oder zu rituellen Instrumenten werden.
Ganz klar, hier ist ein Space Ship mit Aliens gelandet, die sich ihre Umgebung mit äußerster Sorgfalt und Aufmerksamkeit erschließen. In getanzten Dialogen, in sinnlichen Begegnungen, verhandeln diese androgynen Cyborgs ihr neues Ambiente. Am Ende wird nur Eine (oder Einer?) von ihnen in den Lichtkreis treten, um weiterzuziehen. Die Anderen bleiben zurück.
Zusammen mit dem wummernden, pochenden Techno-Sound von Daniel Grossman entsteht eine drängende, archaische und gleichzeitig heitere Stimmung, die Binyaminis spielerischen Ansatz bis zum Schluss beibehält. Die Kostüme von Diego Andrés Rojas Ortiz verfremden die Gesichter durch Halbschleier und die Körper mit dezenten Applikationen. Schließlich drückt auch das großartiges Lichtdesign von Gabriel Chan dem Narrativ dieses Tanzstückes seinen markanten Stempel auf. Shahar Binyamini stellte damit sein choreografisches Talent eindrucksvoll unter Beweis: „Ballroom“ ist ein hoch ästhetisches, dichtes, packendes und kraftvolles Stück mit hypnotischer Wirkung, getanzt von einem Ensemble von 14 jungen TänzerInnen, die wie aus einem Guß agieren.
Klar ein Choreograf, der mit solcher Präzision arbeitet, tut sich mit untrainierten Körpern wohl ungleich schwerer. Das leuchtet nach dem streng durchchoreografierten „Ballroom“ ein. Die zehn, wie die Profis in einer Audition ausgewählten „tanzbegeisterten Laien“ hat Sharan Binyamini hingegen weitgehend sich selbst überlassen. Sie improvisieren ohne Musik und mit viel Glitter in den Kostümen (ebenfalls von Rojas Ortiz). Das aber ist wohl das Schwierigste auf der Bühne und AmateurtänzerInnen haben dafür zwangsläufig nur ein sehr begrenztes Bewegungsrepertoire zur Verfügung. Die Schwäche seiner „getanzten Installation“ hat Binyamini wohl selbst erkannt: Sie war schon während des Einlasses im Gange und nach Erlöschen des Saallichtes auch bald zu Ende. Community Dance geht jedenfalls anders.
Doch zurück zu dem eigens und ausschließlich für diesen Abend zusammengestellten Profi-Ensemble, das in voller Besetzung im zweiten Teil zu sehen waren. Ohad Naharins modulare Choregrafien sind die Grundlage für „Decadance“, eine Collage mit Auszügen aus sechs Stücken, die zwischen 1993 und 2007 entstanden sind. Im Gegensatz zu dem viel jüngeren Binyamini zeigt Naharins Arbeit noch deutliche Einflüsse des Tanztheaters. Für die Einstudierung waren vier TänzerInnen der Batsheva Dance Company zuständig. Flotte Nummer, sexy Pas de deux, witzige Gruppendefilés oder Soloeinlagen wechseln einander in kurzweiliger Folge und zu ebenso vielfältiger Musik ab. Die unmittelbare Wirkung der Gaga-Trainingsmethode auf die Choreografie lässt sich bei „Decadance“ nicht durchgehend nachvollziehen, doch bei den 23 TänzerInnen (einer konnte aufgrund einer Beinverletzung nicht auftreten) ist der Einfluss mehr oder weniger stark sichtbar: durchlässige Körper, durch die die Bewegung quasi fließt, die sich geschmeidig und entspannt wirkend durch den Raum bewegen. Für sie bot diese Initiative eine einmalige Gelegenheit Naharins Arbeit am eigenen Körper zu erfahren. Der Aufwand für einen einzigen Abend scheint dennoch gewaltig.
Shahar Binyamini. Ohad Naharin am 18. Mai im Festspielhaus St. Pölten