Besser ist Anderswo. Bilderbuchartig-mysteriös schon der Beginn. Aus den Tiefen der neuen Unterbühne des Gärtnerplatztheaters wird in Karl Alfred Schreiners Ballett-Premiere „Atlantis“ ein außergewöhnliches Wesen geborgen. Live erklingt dazu „Message“ des Letten Pēteris Vasks. Der in eine blauschwarze Leere abgesenkte Beleuchtungsapparat fährt in die Höhe. Und das Anwerfen mehrerer Sucherspots vervollkommnet die Illusion einer Tiefsee-Expedition.
Zugpferde dieser um einen etwas schmalen Plot mit gesellschaftlich großer Botschaft gebauten Uraufführung am 7. Juni sind vor allem die starken Bühnenbilder von Julia Müer und Heiko Pfützner. Isabella Pirondi, eine auffallend langgliedrige Tänzerin, verkörpert die Atlantikerin. Ihr Schicksal ist das Eingesaugtwerden in ein Behältnis zu wissenschaftlichen Zwecken. Mit dem abgestumpften Blick eines isolierten Gemeinschaftswesens muss sie fortan – in ihrem Element quasi schwerelos hinter Scheiben in luftiger Höhe gefangen – dem Treiben eines geschäftigen Forscherteams zusehen.
Prägnant wie selten hat Schreiner an linearen Bewegungsformationen und öfter noch Varianten von Viererkonstellationen gearbeitet. Das Labor-Kollektiv puzzelt so höchst konzentriert, stereotyp und effizienzorientiert an neuen Erkenntnissen für die Menschheit herum. Musikalisch begleitet durch Fredrik Grans Stück für Streicherorchester „Pictures of Fields without Fences“ (auf Schwedisch: „Bilder av fält utan stängsel“). Bei den resoluten Auftritten des Projektleiters – getanzt von Thomas Martino, der stets auf den Funktionsfluss zwischen Crew, Untersuchungsobjekt und Kontrollpult achtet – mag einem George Orwells Roman „1984“ in den Sinn kommen. Als Jonathan Watkins 2015 diesen Stoff für das Northern Ballet adaptierte (auf DVD bei Opus Arte erschienen), versuchte auch er choreografisch Formen und klare Schemen als Ausdruck für eine kalte, herzlose, rein dem Zweck und Sammeln von Informationen dienende Welt zu finden. Schreiner will aber eine andere Geschichte erzählen.
Der Fokus schwenkt auf den Tänzer Luca Seixas. Voll Inbrunst interpretiert er einen Wissenschaftler, dem die Analyse aus der Ferne allein nicht mehr reicht. Er bricht aus der Regelhaftigkeit aus, streift sich den obligaten weißen Schutzanzug vom Oberkörper und nähert sich der Unbekannten. Aus Neugier entwickelt sich schließlich Sympathie und Zuneigung. Intensiver Höhepunkt: Das sich im Partnering von weiblicher Kraftlosigkeit bis zu gleichwertiger Standfestigkeit steigernde Duett sich zu Fazil Says Klavierkonzert Nr. 2 „Silk Road“! Echter (Wissens-)Austausch zwischen fremden Welten bzw. Kulturen kann eben nur durch ehrlichen, direkten Kontakt passieren.
Gegenseitige Toleranz spielt dabei eine wichtige Rolle. Darauf scheint es Schreiner anzukommen. Und er bleibt stringent bei seinem Thema – mit viel abstraktem Bewegungsmaterial rund um seine kleine Erzählung, in der Atlantis keine legendäre, versunkene Stadt ist, sondern ein philosophischer, utopischer Ort, an dem Offenheit, Freiheit und Gleichheit gelebt werden. Eines der 20 Ensemblemitglieder bringt es im Programmheft auf den Punkt: „Utopia ist für mich das, was nach dem Tod kommt.“ Eine Art Vorwegnahme auf Schreiners finale Szene.
Dass sich alle gemeinsam mächtig in die Idee hineingedacht haben, merkt man dem symbolisch auf Wesentliches reduzierten Bilderreichtum des Stücks an – trotz all seiner langen, rein physisch auf den Zuschauer einwirkenden Tanzpassagen. Schreiner gibt seinen Akteuren eine Menge Zeit, die Qualitäts- und Kommunikationsmerkmale zweier konträrer Lebenskonzepte choreografisch zu beschreiben. Gewiss irritierend für jene, die Abenteuer-Action aus einschlägigen „Atlantis“-Filmen erwartet haben. Luca Seixas’ Figur flüchtet aus ihrer technokratischen Welt, um Atlantis als Ort voller Empathie und gegenseitigem Respekt zu suchen. In einer von den Tänzern mit Folie erzeugten Welle geht er auf seiner Expedition ins eigene turbulente Innere jedoch unter.
Der sinnliche Bewegungsspaß des zweiten Akts dauert mit 35 Minuten nur halb so lang wie der des ersten. Wir sind in Schreiners Atlantis angekommen, wo alle aufgrund ihrer Menschlichkeit miteinander vernetzt sind, aufeinander achten und sich mal solistisch, mal in Paaren oder symbiotisch in einer Gruppe entfalten. Niemand braucht hier sonst etwas.
Auf die Wiederbegegnung mit dem abgesoffenen Wissenschaftler muss man fast bis zum Schluss warten. Als er sein Ziel erreicht, verdichtet sich die Gemeinschaft der Atlantiker zu einem vorsichtig-interessierten Schwarm. Dank der optisch originell dominierenden Netzkonstruktion floatet man räumlich über alle Ebenen. Bühnentechnik und die cineastisch vereinnahmende Musik von Erkki-Sven Tüürs „Insula Deserta“ leisten emotional den Rest, wenn sich im verlöschenden Licht ein swimmingpoolgroßes Grab für den Fremdling öffnet.
Rückgrat des Ganzen: die bravouröse Wiedergabe von insgesamt sechs Werken zeitgenössischer Komponisten durch das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz mit Michael Brandstätter am Pult. Insgesamt ein stilles, versöhnliches Pendant zum vorangegangenen Gast-Premieren-Aufreger „Romeo und Julia“ der isländischen Choreografinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir.
„Atlantis“, Premiere am 7. Juni 2019 im Staatstheater am Gärtnerplatz. In dieser Spielzeit noch am 25. Juli